Ein Garten im Winter
stimmt.«
»Also, hast du Angst?«, fragte Nina.
»Nein. Ich hätte das schon vor Jahren machen sollen. Vielleicht wäre dann … Nein, ich habe keine Angst, einem Mann die Geschichte zu erzählen, der solche Erinnerungen sammelt.«
»Was wäre vielleicht gewesen?«, fragte Meredith.
»Ich möchte, dass ihr beide wisst, wie viel mir diese Reise bedeutet.«
»Das klingt jetzt aber sehr nach Abschied«, bemerkte Nina.
»Heute werdet ihr hören, was ich Schreckliches getan habe«, erwiderte die Mutter.
»Wir alle tun schreckliche Dinge«, entgegnete Meredith. »Mach dir keine Sorgen.«
»Wirklich? Tun wir alle schreckliche Dinge?« Ihre Mom stieß einen abschätzigen Laut aus. »Das ist doch das leichtfertige Geplapper eurer Generation. Aber bevor wir hineingehen, möchte ich euch eins sagen: Ich liebe euch beide.« Ihre Stimme brach und wurde harsch, doch ihr Blick war sanft. »Meine Ninotschka … und meine Meruschka.«
Noch bevor sie auf ihre russischen Kosenamen reagieren konnten, machte die Mutter auf dem Absatz kehrt und marschierte ins Altenheim.
Nina beeilte sich, mit ihrer einundachtzigjährigen Mutter Schritt zu halten.
Am Empfang strahlte sie die Angestellte an, eine Frau mit rundem Gesicht, schwarzen Haaren und einem roten, perlenbesetzten Pullover.
»Wir sind die Whitsons«, verkündete sie. »Ich habe an Dr. Adamowitsch geschrieben und ihm mitgeteilt, wir würden ihn heute besuchen kommen.«
Die Empfangsdame runzelte die Stirn und blätterte in einem Terminkalender. »Ah, ja. Sein Sohn Max wird gegen Mittag hier sein, um Sie zu empfangen. Möchten Sie einen Kaffee, während Sie warten?«
»Gerne«, sagte Nina.
Sie folgten ihrer Wegbeschreibung und gelangten in einen Warteraum mit Schwarzweißbildern von Juneaus bewegter Vergangenheit.
Nina setzte sich auf einen überraschend bequemen Sessel am Fenster. Hinter ihr sah man durch eine Panoramascheibe über grüne Wälder, die in dichtem Regen lagen.
Die Minuten verstrichen. Menschen kamen vorbei, manche zu Fuß, manche im Rollstuhl; ihre Stimmen näherten und entfernten sich wieder.
»Ich frage mich, wie hier die Weißen Nächte sind«, sagte die Mutter leise und blickte aus dem Fenster.
»Je weiter man nach Norden kommt, desto schöner sind sie«, erklärte Nina. »Jedenfalls hab ich das gelesen. Aber wenn man Glück hat, sieht man manchmal von hier aus schon das Nordlicht.«
»Das Nordlicht«, wiederholte die Mutter und lehnte sich auf ihrem orangefarbenen Stuhl zurück. »Früher ist Papa manchmal mit mir mitten in der Nacht, während die anderen schliefen, nach draußen gegangen. Er hat geflüstert: ›Veruschka, meine kleine Schriftstellerin‹, dann hat er mich an der Hand genommen, mich in eine Decke gewickelt und ist mit mir hinaus auf die Straßen Leningrads gegangen, um von dort in den Himmel zu starren. Es war wunderschön. ›Gottes Feuerwerk‹, hat mein Papa gesagt, wenn auch nur leise. Damals war alles, was er sagte, gefährlich. Nur wussten wir Kinder das nicht.« Sie seufzte. »Es ist wohl das erste Mal, dass ich überhaupt von ihm erzähle. Ich hab mich gerade an etwas ganz Belangloses erinnert.«
»Tut es weh?«, fragte Meredith.
Sie überlegte kurz und sagte dann: »Auf gute Weise. Wir hatten immer Angst, von ihm zu sprechen. Das hat Stalin uns angetan. Als ich in die Vereinigten Staaten kam, konnte ich anfangs nicht glauben, wie frei alle waren, wie unbekümmert sie aussprachen, was ihnen durch den Kopf ging. Und in den Sechzigern und Siebzigern erst …« Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Mein Vater wäre begeistert gewesen, ein Sit-in oder eine Demonstration der Studenten zu sehen. Er war wie sie, wie … Sascha und euer Vater. Ein Träumer.«
»Vera war auch eine Träumerin«, meinte Nina sanft.
»Eine Zeitlang.«
Ein Mann mit Flanellhemd und verblichenen Jeans kam ins Zimmer. Da ein dichter schwarzer Bart die untere Hälfte seines eckigen Gesichts bedeckte, konnte man nur schwer sein Alter schätzen. »Mrs Whitson?«, sagte er.
Langsam stand die Mutter auf.
Der Mann trat mit ausgestreckter Hand zu ihr. »Ich bin Maxim. Sie sind so weit gereist, um meinen Vater Wassili Adamowitsch zu besuchen.«
Nina und Meredith standen gleichzeitig auf.
»Ihr Vater hat mir vor vielen Jahren geschrieben«, erklärte die Mutter.
Maxim nickte. »Leider hatte er mittlerweile einen Schlaganfall. Er kann kaum sprechen, und seine linke Seite ist gelähmt.«
»Also ist unser Besuch Zeitverschwendung?«, fragte
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