Ein Garten im Winter
damit wir es warm haben. Ich sitze in der finsteren Kälte, halte meine mageren Kinder im Arm und erzähle ihnen Anna Karenina, Krieg und Frieden und Eugen Onegin. Ich erzähle ihnen so oft, wie Sascha und ich uns kennengelernt haben, dass es schon bald wie eine auswendig gelernte Geschichte klingt.
Aber alles rückt immer weiter von mir weg. An manchen Tagen kann ich mich nicht mal mehr an mein eigenes Gesicht erinnern, geschweige denn an das meines Mannes. Ich weiß nichts mehr über die Vergangenheit, wohl aber etwas über die Zukunft: Sie liegt in den angespannten, eingesunkenen Gesichtern meiner Kinder, in den blauen Blutergüssen, die auf Leos bleicher Haut erschienen sind.
Skorbut.
Glücklicherweise arbeite ich in der Bibliothek. Dort kann ich nachlesen, dass Kiefernnadeln Vitamin C enthalten. Daher breche ich Kiefernzweige ab und bringe sie auf dem Schlitten nach Hause. Der Tee aus den Nadeln ist zwar bitter, aber Leo beklagt sich nicht mehr.
Ich wollte, er könnte es noch.
Dunkelheit. Kälte.
Ich höre den Atem meiner Kinder neben mir im Bett. Leo röchelt. Ich befühle seine Stirn. Sie ist nicht heiß, Gott sei Dank.
Ich weiß, was mich geweckt hat. Das Feuer ist ausgegangen.
Ich möchte nichts mehr tun.
Der Gedanke kommt mir, bevor ich ihn abwehren kann. Ich könnte einfach nichts tun, nur noch daliegen, meine Kinder festhalten und dann für immer einschlafen.
Es gibt schlimmere Arten zu sterben.
Dann spüre ich, dass Anjas dünne Beinchen gegen meine streifen. Sie murmelt im Schlaf »Papa«, und erinnert mich an mein Versprechen.
Es dauert eine Ewigkeit aufzustehen. Alles tut mir weh. In meinen Ohren klingelt es, und ich kann kein Gleichgewicht mehr halten. Auf halbem Weg zum Ofen spüre ich, dass ich falle.
Als ich aus meiner Ohnmacht erwache, weiß ich nicht mehr, wo ich bin. Eine Sekunde höre ich meinen Vater an seinem Schreibtisch arbeiten. Sein Stift kratzt Worte auf das unebene Büttenpapier.
Nein.
Ich gehe zum Bücherregal. Nur noch das Kostbarste ist übrig geblieben: die Gedichte meines Vaters.
Ich kann sie nicht verbrennen.
Morgen vielleicht, aber nicht heute. Stattdessen nehme ich die Axt – sie ist so schwer – und hacke ein Stück vom Bücherregal ab. Es ist dickes, altes Holz, hart wie Eisen, und es brennt mit hellen Flammen.
Ich stehe vor dem Feuer am Bett und spüre, wie ich schwanke.
Plötzlich weiß ich, wenn ich mich jetzt hinlege, sterbe ich. Ich werde sterben. Hat meine Mutter mir das gesagt? Oder meine Schwester? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es wahr ist.
»Ich will nicht in meinem Bett sterben«, sage ich ins Leere. Also gehe ich zum einzigen anderen Möbelstück in der Wohnung. Dem Schreibtisch meines Vaters. Ich wickele mich in eine Decke und nehme dort Platz.
Kann ich Papa wirklich riechen, oder sind das schon wieder Halluzinationen? Ich weiß es nicht. Ich nehme seinen Stift und entdecke, dass die Tinte im Tintenfass gefroren ist. Der kleine Metallbehälter ist eiskalt, aber ich bringe ihn zum Ofen, wo wir beide schnell wärmer werden. Mit einer Tasse voll heißem Wasser gehe ich zurück zum Schreibtisch.
Ich zünde die Lampe neben mir an. Es ist dumm, das weiß ich. Ich sollte das Öl sparen, aber ich kann einfach nicht in der eisigen Dunkelheit sitzen. Ich muss etwas tun , um am Leben zu bleiben.
Also werde ich schreiben.
Es ist noch nicht zu spät. Ich bin noch nicht tot.
Ich bin Vera Petrowna, und ich bin ein Niemand.
Ich schreibe und schreibe, auf Papier, das ich bald werde verfeuern müssen, und meine Hand zittert so heftig, dass die Buchstaben aussehen wie Antilopen, die über das Blatt springen. Trotzdem schreibe ich weiter, und die Nacht weicht zurück.
Ein paar Stunden später dringt fahles Licht durch das mit Zeitungen verklebte Fenster. Da weiß ich, dass ich es geschafft habe.
Ich will gerade den Federhalter weglegen, als es an der Tür klopft. Ich zwinge meine Beine, sich aufzustellen, meine Füße, sich zu bewegen.
Ich öffne die Tür. Dort steht ein Fremder, ein Mann mit einem dicken schwarzen Wollmantel und einem Barett.
»Vera Petrowna Marschenko?«
Ich höre seine Stimme. Sie klingt vertraut, doch ich kann mich nicht auf sein Gesicht konzentrieren. Meine Sicht ist verschwommen.
»Ich bin es. Dima Newski vom Ende des Flurs.« Er gibt mir eine Flasche Rotwein, eine Tüte Süßigkeiten und einen Sack Kartoffeln. »Meine Mama ist zu krank zum Essen. Sie wird den heutigen Tag nicht überleben. Daher hat sie mich
Weitere Kostenlose Bücher