Ein Garten im Winter
zusammen, richte mich mühsam auf und setze mich wieder in Bewegung.
Ich gehe, einen Schritt nach dem anderen, bis ein Lastwagen vor mir auftaucht.
Ein Mann mit einem weiten weißen Tarnanzug steht an der Fahrertür und raucht. Der Geruch erinnert mich an meine Mutter.
»Eine Fahrt über das Eis?«, frage ich und höre, wie brüchig und schwach meine Stimme klingt.
Das Gesicht des Mannes ist nicht verhärmt oder abgespannt. Das heißt, er ist wichtig, oder zumindest in der Partei. Ich spüre, wie meine Hoffnung sinkt.
Er beugt sich vor und sieht auf Leo. »Tot?«
Ich schüttle den Kopf. »Nein. Er schläft nur.«
»Bitte«, sage ich, mit wachsender Verzweiflung. Überall um uns herum fahren Lastwagen los, und ich weiß, wenn wir nicht bald eine Mitfahrgelegenheit finden, werden wir hier sterben. Ich hole den Cloisonné-Schmetterling meines Großvaters hervor. »Hier.«
»Nein, Mama«, sagt Anja und greift danach.
Der Mann runzelt nur die Stirn. »Was soll ich denn damit?«
Da ziehe ich meinen Handschuh aus und gebe ihm stattdessen meinen Ehering. »Er ist aus Gold. Bitte …«
Er mustert mich, während er einen letzten Zug von seiner Zigarette nimmt und sie dann in den Schnee fallen lässt. »Ist gut, Baba«, sagt er und steckt meinen Ring ein. »Steig ein. Ich nehme dich und deine Enkelkinder mit.«
Ich bin so dankbar, dass mir erst später, als wir alle in der Fahrerkabine seines Wagens sitzen, auffällt, was er gesagt hat.
Baba.
Er hält mich für eine alte Frau. Ich ziehe den Schal ab und blicke in den Spiegel der Sonnenblende.
Meine Haare sind so weiß wie meine Haut.
Es ist schon Tag, als wir über das Eis fahren. Natürlich ist es nicht besonders hell, aber es reicht, um zu sehen, wo wir jetzt sind.
Endlos breitet sich der Schnee aus. Man sieht Schlangen von Lastwagen, die Lebensmittel für mein armes Leningrad transportieren. Soldaten in weißen Tarnanzügen. Nicht weit von uns – etwa dreihundert Meter – ist unser nächstes Ziel, der Bahnhof.
Kaum sind wir losgefahren, fallen die Bomben. Unser Fahrer hält und steigt aus.
Ehrlich gesagt, will ich nicht aussteigen, obwohl ich weiß, wie gefährlich es ist, hier sitzen zu bleiben. Es ist Benzin im Tank, und der Transporter ist nicht getarnt, aus der Luft also deutlich zu sehen. Aber wir haben es hier so warm wie schon lange nicht mehr … Dann blicke ich auf meinen Leo und vergesse die drohende Gefahr.
Er atmet nicht mehr.
Ich schüttele ihn heftig, knöpfe seinen Mantel auf und reiße das Zeitungspapier ab. Leos Brust besteht buchstäblich nur noch aus Knochen, blauer Haut und Beulen. »Wach auf, Leo. Atme. Komm schon, mein Löwe.« Ich senke meine Lippen auf seine und atme für ihn.
Endlich erschauert er in meinen Armen, und ich spüre, wie der leichte, saure Hauch seines Atems in meinen Mund dringt.
Er fängt an zu weinen.
Auch ich weine. Ich drücke ihn an mich und sage: »Verlass mich nicht, Leo. Ich könnte es nicht ertragen.«
»Seine Hände sind so heiß«, sagt Anja, und ich sehe, dass sie Angst hat, weil ich geschrien habe.
Ich berühre Leos Stirn.
Das Fieber verbrennt ihn. Mit zitternden Händen rücke ich die Zeitung zurecht und knöpfe ihm Pullover und Mantel zu.
Wir gehen wieder hinaus in die Kälte.
Anja steigt als Erste aus dem Lastwagen. Ich bin so mit Leo beschäftigt, dass ich kaum die Bomben und Schüsse um mich herum bemerke. Irgendwo in der Nähe explodiert ein Lkw.
Es ist wie im Auge eines Orkans. Um uns herum fahren Lastwagen vorbei, traben Pferde mit Karren, rennen Soldaten, und wir armen, ausgehungerten Leningrader halten Ausschau nach jemandem, der uns mitnimmt.
Endlich finde ich das Lazarett. Ein paar schmutzig weiße, sturmgebeutelte Zelte auf einem Schneefeld.
Aber drinnen ist kein Lazarett. Nur Sterbende und Tote. Mehr nicht. Der Gestank ist grauenerregend. Menschen liegen stöhnend in ihrem eigenen gefrierenden Unrat.
Ich wage es nicht, Leo hinzulegen, weil ich Angst habe, dass es ihm dann noch schlechter geht. Eine Ewigkeit irren wir herum, auf der Suche nach jemandem, der uns hilft.
Schließlich finde ich einen alten, gebeugten Mann mit einem Stock, der ins Leere starrt. Ich gehe nur zu ihm, weil er einen weißen Kittel trägt.
»Bitte«, sage ich und strecke die Hand nach ihm aus. »Mein Sohn stirbt am Fieber.«
Der Mann wendet sich zu mir. Er sieht so müde aus, wie ich mich fühle. Seine Hände zittern leicht, als er sie nach Leo ausstreckt. Ich sehe Furunkel auf seinen
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