Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Garten im Winter

Ein Garten im Winter

Titel: Ein Garten im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
Vom Netzwerk:
Fingern.
    Er berührt kurz Leo Stirn und sieht mich an.
    Diesen Blick werde ich niemals vergessen. Glücklicherweise sagt er nur: »Bringen Sie ihn ins Krankenhaus in Tscherepowez.« Er zuckt mit den Schultern. »Vielleicht …«
    Ich frage nicht weiter nach. Ich möchte nicht mehr von ihm hören.
    Er gibt mir vier weiße Tabletten. »Zwei pro Tag«, erklärt er. »Mit sauberem Wasser. Wann hat er das letzte Mal gegessen?«
    Ich schüttle den Kopf. Wie soll ich es aussprechen, die Wahrheit sagen? Es ist unmöglich, ihn zum Essen zu bringen.
    »Tscherepowez«, wiederholt er nur, dann wendet er sich ab und geht. Bei jedem Schritt greift jemand nach ihm und bettelt um Hilfe.
    »Gehen wir.«
    Ich nehme Anja bei der Hand, und wir machen uns auf den langen, beschwerlichen Weg durch das Lazarett, über das Schneefeld zum Bahnhof. Unsere Papiere sind in Ordnung, daher können wir in einen Waggon klettern, in dem sich wieder viel zu viele Menschen drängen. Es gibt keinen Platz für mich und meine Kinder, daher setzen wir uns auf den kalten Boden. Ich halte Leo auf meinem Schoß und Anja dicht an meiner Seite. Als es dunkel wird, hole ich den kleinen Beutel Nüsse hervor. Ich gebe Anja so viele wie möglich und esse selbst ein paar. Ich schaffe es sogar, Leo eine der Tabletten mit einem Schluck von dem Wasser zu geben, das ich mitnehmen konnte.
    Es ist eine lange, schreckliche Nacht.
    Immer wieder beuge ich mich zu Leos Gesicht hinunter, um zu sehen, ob er noch atmet.
    Ich weiß noch, dass wir einmal angehalten haben. Die Waggontüren gingen auf und jemand schrie: »Gibt es Tote? Tote hier? Dann gebt sie uns raus.«
    Hände greifen nach Leo und versuchen, ihn mir aus den Armen zu reißen.
    Ich klammere mich an ihm fest und schreie: »Er atmet. Er atmet noch.«
    Als die Tür zugeht und es wieder dunkel wird, rückt Anja noch näher zu mir. Ich höre, dass sie weint.
    In Tscherepowez ist es nicht besser. Wir haben einen ganzen Tag Aufenthalt. Zuerst denke ich, das sei ein Segen, weil wir Leo retten können, bevor wir in den nächsten Zug steigen, doch er wird immer schwächer.
    Ich versuche, meine Augen vor der Wahrheit zu verschließen, aber er liegt schlaff in meinen Armen. Er hustet ständig. Jetzt hat er blutigen Auswurf. Er ist kochend heiß und zittert. Er will nichts essen oder trinken.
    Das örtliche Krankenhaus ist die Hölle. Alle haben Ruhr oder Skorbut. Alle paar Minuten sieht man Leningrader hineinhumpeln, die Hilfe brauchen. Stündlich verlassen Lastwagen voller Leichen das Krankenhaus, um leer zurückzukommen. Die Menschen sterben im Stehen.
    Nur gut, dass ich so schwach und hungrig bin. Ich habe nicht mehr die Kraft, herumzulaufen und nach Hilfe zu suchen. Stattdessen stehe ich im zugigen, kahlen Gang und halte meinen Sohn in den Armen. Wenn jemand vorbeigeht, flüstere ich: »Helfen Sie ihm. Bitte.«
    Anja schläft daumenlutschend auf dem kalten Boden, als eine Krankenschwester bei uns stehen bleibt.
    »Helfen Sie ihm«, bitte ich und reiche ihr Leo.
    Sie nimmt ihn sanft in ihre Arme. Ich versuche zu ignorieren, dass sein Kopf einfach zurückkippt.
    »Er ist dystrophisch. Im Endstadium.« Als ich sie verständnislos anstarre, sagt sie: »Er stirbt. Aber wenn wir ihm etwas Flüssigkeit zuführen könnten … vielleicht. Ich könnte ihn zum Arzt bringen. Es würden ein paar schwierige Tage werden, aber vielleicht …«
    Sie ist so jung. So jung wie ich vor Kriegsanfang. Ich weiß nicht, wie ich ihr glauben soll. Gleichzeitig will ich ihr glauben. »Ich habe Evakuierungspapiere. Wir sind für den morgigen Zug nach Wologda vorgesehen.«
    »So wird Ihr Sohn nicht in den Zug gelassen«, antwortet die junge Krankenschwester. »Er ist zu krank.«
    »Wenn wir bleiben, bekommen wir aber keine Fahrkarten mehr«, sage ich. »Wir werden hier sterben.«
    Darauf erwidert die Krankenschwester nichts. Lügen ist Zeitverschwendung.
    »Wir könnten doch versuchen, Leo jetzt zu helfen, oder nicht? Vielleicht geht es ihm dann morgen besser.«
    Der Krankenschwester sieht man deutlich ihr Mitleid an. »Natürlich. Vielleicht geht es ihm besser.«
    Tatsächlich.
    Es geht ihm besser.
    Nachdem Anja und ich die Nacht auf dem Boden neben Leos schmutzigem Krankenbett verbracht haben, wache ich mit kalten, schmerzenden Gliedmaßen auf. Aber als ich mich hinknie und einen Blick auf Leo werfe, sehe ich, dass er wach ist. Zum ersten Mal seit langer Zeit blicken seine Augen klar. »Hallo, Mama«, sagt er mit krächzender Stimme, die mir

Weitere Kostenlose Bücher