Ein Garten im Winter
durch und durch geht. »Wo sind wir? Wo ist Papa?«
Ich wecke Anja und ziehe sie hoch. »Wir sind hier, mein Schatz, auf dem Weg zu Papa. Er wartet in Wologda auf uns.«
Unter Tränen lächle ich, während ich meinen Sohn, mein kleines Baby ansehe. Vielleicht ist mein Blick durch die Tränen getrübt, vielleicht aber auch durch die Hoffnung. Ich bin eigentlich alt genug, um es besser zu wissen, aber mit dem Klang seiner Stimme ist mir der gesunde Menschenverstand abhandengekommen. Ich sehe nicht, wie blau seine Haut ist und dass die Ödeme auf seiner Brust aufgeplatzt sind und gelb nässen. Ich höre nicht seinen verschleimten Husten. Ich sehe nur Leo. Meinen Löwen. Mein Baby mit den strahlend grünen Augen und dem hellen Lachen.
Daher bin ich verwirrt, als die Krankenschwester kommt und mir rät, zum Zug zu gehen.
»Aber es geht ihm doch besser«, sage ich und sehe ihn an.
Schweigen breitet sich zwischen uns aus, nur unterbrochen von Leos Husten und fernem Maschinengewehrrattern. Die Krankenschwester blickt bedeutungsvoll zu Anja.
Zum ersten Mal fällt mir auf, wie blass meine Tochter ist, wie grau ihre rissigen Lippen, wie wund die Haut an ihrem Hals. Das Haar fällt ihr büschelweise aus.
Wie konnte ich das nur übersehen?
»Aber …« Ich sehe mich um. »Sie haben doch gesagt, man würde meinen Sohn nicht in den Zug lassen.«
»Es sind zu viele Evakuierte. Sterbende werden nicht mehr mitgenommen. Aber Sie haben doch für sich und Ihre Tochter Papiere, oder?«
Wie kommt es, dass ich erst jetzt begreife, was sie mir sagen will? Und wie kann man erklären, wie es sich anfühlt, endlich die Wahrheit zu begreifen? Wenn man mir ein Messer ins Herz stieße, täte es weniger weh.
»Wollen Sie etwa sagen, dass ich ihn allein hierlassen soll? Dass ich ihn sterben lassen soll?«
»Ich will nur sagen, dass er sterben wird.« Wieder blickt die Krankenschwester zu Anja. »Aber sie können Sie retten.« Sie berührt kurz meinen Arm. »Es tut mir leid.«
Wie erstarrt stehe ich da und sehe ihr nach. Ich weiß nicht, wie lange ich mich nicht rühren kann, aber als ich den Pfiff des Zuges höre, sehe ich hinunter zu meiner Tochter, die ich mehr als mein Leben liebe, und zu meinem Sohn, der im Sterben liegt.
»Mama?«, sagt Anja und sieht fragend zu mir auf.
Ich nehme Anja bei der Hand und verlasse mit ihr das Krankenhaus. Als wir am Zug sind, knie ich mich vor sie hin.
Sie wirkt so klein in ihrem dicken, leuchtend roten Mantel und den Walenki , die viel zu groß für sie sind.
»Mama?«
»Ich kann Leo nicht hierlassen«, sage ich und höre, dass mir die Stimme bricht. Er darf nicht allein sterben, möchte ich sagen, doch wie soll ich so etwas gegenüber meiner Fünfjährigen ausdrücken? Weiß sie, dass ich eine Wahl treffe, vor die man keine Mutter je stellen sollte? Wird sie mich eines Tages dafür hassen?
Sie verzieht grimmig ihr Gesicht, und der Anblick ist mir so vertraut, dass es mir fast das Herz bricht. Eine Sekunde sehe ich sie, wie sie früher war. »Aber –«
»Du bist meine große, starke Tochter. Du kommst allein zurecht.«
Sie schüttelt den Kopf und fängt an zu weinen. »Nein, Mama. Ich will bei dir bleiben.«
Ich greife in meine Tasche und hole ein Stück Papier hervor. Es riecht noch nach Wurst, und bei dem Geruch dreht sich mir der Magen um. Ich schreibe Anjas Namen auf den Zettel und hefte ihn ihr ans Revers. »P-Papa wartet in Wologda auf dich. Such ihn. Sag ihm, wir kommen bis Mittwoch nach. Ihr zwei könnt Leo und mich abholen.«
Ich lüge, das fühle ich. Das spüre ich. Aber sie vertraut mir.
Ich lasse nicht zu, dass sie mich umarmt. Ich sehe, dass sie die Arme nach mir ausstreckt, doch ich stoße sie zurück, in die Menge, die sich vor dem Zug versammelt.
Direkt neben uns steht eine Frau. Anja stößt gegen sie, worauf die Frau zur Seite taumelt und leise schimpft.
»Mama –«
Ich schiebe meine Tochter zu der Fremden, die mich mit glasigen Augen ansieht.
»Nehmen Sie meine Tochter«, bitte ich. »Sie hat Papiere. Ihr Vater wartet in Wologda. Alexander Iwanowitsch Marschenko.«
»Nein, Mama«, heult Anja und streckt die Arme nach mir aus.
Ich möchte sie so heftig wegschubsen, dass sie stolpert, aber ich bringe es nicht über mich. Im letzten Moment reiße ich sie in meine Arme und drücke sie fest an mich.
Vom Zug ertönt ein Pfiff. Jemand schreit: »Fährt sie mit?«
Ich löse Anjas Hände von meinem Nacken. »Du musst tapfer sein, Anja. Ich hab dich lieb, moja
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