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Ein Garten im Winter

Ein Garten im Winter

Titel: Ein Garten im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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gebeten, Ihnen das zu geben. Für die Kinder, hat sie gesagt.«
    »Dima«, sage ich und weiß immer noch nicht, wer er ist. Ich kann mich auch nicht an seine Mutter erinnern, meine Nachbarin.
    Aber das Essen nehme ich. Ich tue nicht mal so, als wollte ich es nicht. Vielleicht würde ich sogar für Essen töten. Wer weiß? »Danke«, sage ich, oder denke es. Zumindest fühle ich es.
    »Wie geht es Alexander?«
    »Wie geht es uns? Möchten Sie hereinkommen? Hier ist es etwas wärmer.«
    »Nein. Ich muss zurück zu meiner Mutter. Ich bin nicht lange hier. Morgen geht’s zurück an die Front.«
    Als er weg ist, betrachte ich staunend das Essen. Ich lächle sogar, als ich Leo an diesem Morgen aufwecke und sage: »Es gibt Süßigkeiten …«
    Im Januar schnalle ich den armen Leo auf den Schlitten. Er ist so schwach, dass er sich nicht mal wehrt. Sein winziger Körper ist bläulich schwarz und von Beulen übersät. Anja ist es zu kalt zum Aufstehen. Ich sage ihr, sie soll im Bett bleiben und auf uns warten.
    Drei Stunden dauert es bis zum Krankenhaus, und als ich dort ankomme …
    In der Schlange sind Menschen gestorben, während sie auf den Arzt warteten. Überall liegen Leichen. Es stinkt.
    Ich beuge mich zu Leo hinunter, der gleichzeitig knochig und aufgedunsen wirkt. Sein winziges Gesicht sieht aus wie das einer verhungernden Katze. »Ich bin hier, mein Löwe«, sage ich, weil mir sonst nichts einfällt.
    Eine Krankenschwester sieht uns.
    Obwohl wir in einer Menge von zweihundert Wartenden stehen, kommt sie zu uns und schaut sich Leo an. Als sie wieder zu mir schaut, sehe ich Mitleid in ihrem Blick.
    »Hier«, sagt sie und gibt mir ein Formular. »Damit bekommt er ein bisschen Hirsesuppe und Butter. In der Krankenhausapotheke gibt es Aspirin.«
    »Danke«, sage ich.
    Wir sehen uns wieder an und wissen, dass das nicht reicht.
    »Er heißt Leo.«
    »Mein Sohn hieß Juri.«
    Ich nicke verstehend. Manchmal bleibt einem nur noch ein Name.
    Als ich vom Krankenhaus nach Hause komme, koche ich alles, was mir in die Finger gerät. Ich reiße die Tapeten von den Wänden und koche sie. Der Kleister ist aus Mehl und Wasser gemacht und verdickt sich zu einer Art Suppe. Holzleim geht auch. Das bringe ich meiner Tochter bei. Gott helfe uns.
    Ich koche einen Ledergürtel von Sascha und mache daraus Gelee. Es schmeckt ekelerregend, aber ich kann Leo dazu bringen, etwas davon zu essen …
    Mitte Januar steht ein Freund von Sascha vor unserer Tür. Ich merke, dass er geschockt ist von dem, was er sieht. Er gibt mir ein Päckchen von Sascha.
    Kaum ist er gegangen, hocken wir uns um das Päckchen. Selbst Leo lächelt.
    Darin befinden sich die Evakuierungspapiere. Wir sollen am zwanzigsten aufbrechen.
    Unter den Papieren finde ich einen Kringel Wurst und einen Beutel Nüsse.
    In völliger Dunkelheit packe ich unsere gesamte Habe ein – viel ist es nicht mehr. Ich weiß nicht, was ich mitgenommen und was ich dagelassen habe. Ein Großteil unserer Sachen ist entweder verbrannt oder durch die Kälte zerstört worden, aber ich denke daran, meinen letzten Gedichtband von Anna Achmatowa mitzunehmen und die Aufzeichnungen von Vater und mir. Ich packe auch alles ein, was wir zu essen haben: die Wurst, ein halbes Netz Zwiebeln, vier Stücke Brot, ein paar Ölkuchen, ein viertelvolles Glas Sonnenblumenöl und den Rest Sauerkraut.
    Leo muss ich tragen. Mit seinen geschwollenen Füßen und den Armen voller Beulen kann er sich kaum bewegen, und ich bringe es nicht über mich, ihn zu wecken, wenn er schläft.
    Als wir drei am Morgen aufbrechen, ist es noch dunkel. Die kleine Anja trägt unseren einzigen Koffer, der die Nahrungsmittel enthält. All unsere Kleider tragen wir am Leib.
    Draußen ist es bitterkalt und es schneit heftig. Ich halte Anja auf dem langen Weg zum Bahnhof an der Hand. Als wir dort ankommen, sind wir beide erschöpft.
    Im Zug drängen wir uns aneinander. Wir sind nur drei in einer großen Menge, aber nirgendwo hört man jemanden sprechen. Es riecht muffig, nach Körperausdünstungen, schlechtem Atem und Tod. Dieser Geruch ist uns nur allzu vertraut.
    Ich drücke meine Kinder fest an mich. Ich gebe ihnen Wein zu trinken, aber Leo ist noch nicht zufrieden. Das Essen kann ich nicht auspacken, nicht in dem überfüllten Zug. Schon die Ölkuchen wären ein Grund, mich umzubringen, und die Wurst erst recht.
    Ich greife tief in meine Manteltasche, die ich mit Dreck vom Boden des abgebrannten Badajew-Lebensmittellagers gefüllt

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