Ein Garten im Winter
duscha. »
Wie kann ich sie »meine Seele« nennen und sie gleichzeitig wegstoßen? Aber ich tue es. Ich tue es.
In der letzten Sekunde gebe ich ihr den Schmetterling. »Hier. Bewahr den für mich auf. Ich komme, um ihn wiederzuholen. Um dich wiederzuholen.«
»Nein, Mama –«
»Versprochen«, sage ich, hebe sie hoch und drücke sie in die Arme eines Fremden.
Sie weint immer noch, schreit meinen Namen und will sich freikämpfen, als die Zugtüren zuschlagen.
Lange stehe ich nur da und sehe zu, wie der Zug immer kleiner wird und dann verschwindet. Die Deutschen werfen wieder Bomben ab. Überall um mich herum höre ich Explosionen, schreiende Menschen und herabdonnernde Trümmer.
Doch ich achte kaum darauf.
Als ich mich zum Krankenhaus wende, habe ich das Gefühl, etwas zu verlieren, aber ich blicke nicht zu Boden, ich will gar nicht sehen, was ich verloren habe. Stattdessen gehe ich durch Trümmer und Schnee zu meinem Sohn.
Mein Verlust ist ein dumpfer Schmerz in der Brust, so dass ich kaum atmen kann, aber ich rede mir ein, das Richtige getan zu haben.
Ich werde Leo mit reiner Willenskraft am Leben erhalten, und Sascha wird Anja in Wologda finden und am Mittwoch werden wir uns alle wiedersehen.
Es ist ein wunderschöner Traum. Ich schütze ihn, so gut ich kann, wie die schwache Flamme einer Kerze, die ich in meinen Händen berge.
Im Krankenhaus ist es wieder dunkel. Der Gestank ist unerträglich. Und es ist bitterkalt. Ich spüre, wie der Wind draußen über jeden Riss und jeden Spalt wandert und nach einem Weg hinein sucht.
Leo liegt in seinem schmalen Bettchen mit der durchgelegenen Matratze und schmatzt im Schlaf. Er isst etwas, das nicht da ist. Mittlerweile hustet er fast ununterbrochen und spuckt während der Anfälle ein filigranes Muster aus Blut auf die Wolldecken.
Als ich es nicht mehr aushalte, krieche ich zu ihm ins Bett und nehme ihn in die Arme. Er schmiegt sich wie als Baby an mich und murmelt meinen Namen im Schlaf. Es schmerzt mich, seinen rasselnden Atem zu hören.
Ich streichle ihm die heiße, feuchte Stirn. Meine Hand ist eiskalt, aber ich berühre ihn, um ihm zu vermitteln, dass ich da bin, bei ihm, und ihn beschütze. Ich singe ihm seine Lieblingslieder vor. Hier und da wacht er auf, lächelt mich zittrig an und fragt nach Süßigkeiten.
»Keine Süßigkeiten«, sage ich und küsse ihn auf die eingesunkenen, bläulichen Wangen. Wieder schneide ich mir in den Finger und lasse ihn daran lutschen, bis der Schmerz zu groß wird.
Ich singe ihm gerade etwas vor und fahnde in meiner Erinnerung nach dem Text, als ich bemerke, dass er nicht mehr atmet.
Ich küsse seine kalten Wangen, seine Lippen, und meine, ihn sagen zu hören: »Ich hab dich lieb, Mama«, aber natürlich ist das nur Einbildung. Wie soll ich je vergessen, wie es war, als er jeden Tag ein wenig mehr starb? Und ich es zuließ … Vielleicht hätten wir niemals Leningrad verlassen sollen.
Ich bin überzeugt, dass ich den Schmerz nicht aushalten kann, doch ich schaffe es. Den ganzen restlichen Tag und einen Teil des nächsten liege ich bei ihm und halte ihn im Arm, während er immer kälter wird. In normalen Zeiten wäre das wahrscheinlich nicht erlaubt gewesen, aber dies sind keine normalen Zeiten. Schließlich rücke ich von seinem kleinen Körper ab und stehe auf.
So gerne ich auch für immer bei ihm liegen und einfach langsam verhungern würde, so unmöglich ist es mir. Ich habe Sascha ein Versprechen gegeben.
Du musst leben , hat er gesagt, und ich habe es ihm versprochen.
Also wende ich mich mit leeren Händen und einem zu Stein erstarrten Herzen von meinem toten Sohn ab, der ganz allein in einem Bettchen an der Tür liegt, und setze mich wieder einmal in Bewegung. Ich weiß, von nun an bleiben mir von meinem Sohn nur noch ein Datum im Kalender und ein Stoffkaninchen in meinem Koffer.
Ich werde nicht erzählen, was ich getan habe, um mir einen Platz im Zug Richtung Osten zu sichern. Es ist ohnehin unwichtig. Ich bin nicht mehr ich selbst. Ich bin nur noch eine leere Hülle, die nicht zur Ruhe kommen darf, obwohl ich mich danach sehne, mich einfach hinzulegen, die Augen zu schließen und aufzugeben. Der Schmerz über meinen Verlust begleitet mich überall hin und verlockt mich, einfach die Augen zufallen zu lassen.
Anja.
Sascha.
An diese beiden Namen klammere ich mich, obwohl ich manchmal vergesse, wer die sind, von denen ich träume. Vom Zugfenster aus sehe ich die zerstörte Landschaft. Haufen
Weitere Kostenlose Bücher