Ein Garten im Winter
habe.
Leo verschlingt gierig den süßen Dreck und verlangt jammernd nach mehr. Ich tue das Einzige, was mir noch einfällt: Ich schneide mir in den Finger und stecke ihn Leo in den Mund. Er saugt wie ein Neugeborenes daran und trinkt mein warmes Blut. Es tut weh, aber nicht so weh, wie seinen rasselnden Atem zu hören oder seine heiße Stirn zu fühlen.
Mit leiser Stimme erzähle ich ihnen Geschichten von ihrem Vater und mir, von einer Liebe wie im Märchen, die eine Ewigkeit her zu sein scheint. Irgendwo auf der ruckelnden Zugfahrt, als meine Angst übermächtig wird, weil Leo schrecklich hustet und Anja immer wieder fragt, wann wir Papa wiedersehen, fange ich an, meinen Mann als Prinzen zu bezeichnen und Genosse Stalin als Schwarzen Ritter, und die Newa bekommt magische Eigenschaften.
Die Reise scheint endlos zu dauern. Mir tut alles weh, weil ich so lange durchgerüttelt werde. Nur mein Märchen hält uns noch aufrecht. Ich bin überzeugt, dass ich sonst weinen würde, oder schreien, und niemals mehr aufhören.
Endlich erreichen wir das Ufer vom Ladoga-See. So weit ich auch schaue, ich sehe nur Eis; es ist fast kein Unterschied mehr, ob ich durch eine Fensterscheibe sehe oder durch den Dunst meines eigenen Atems.
Wir befinden uns am Anfang der Eisstraße.
Fünfundzwanzig
Die Armee hat Monate daran gearbeitet, eine Straße über den zugefrorenen Ladoga-See zu bauen. Jetzt ist sie fertig, und alle nennen sie nur die Straße des Lebens. Es heißt, dass bald Transporter mit Nahrungsmitteln über das Eis nach Leningrad fahren werden. Bis jetzt brechen diese Transporter immer noch ein und versinken im eisigen schwarzen Wasser. Außerdem werfen die Deutschen natürlich unablässig Bomben.
Ich überprüfe die Kleider meiner Kinder. Es ist alles noch so wie bei unserem Aufbruch in Leningrad. Leo und Anja sind zuerst in Zeitungspapier gewickelt worden, bevor sie all ihre Kleider übergestreift bekommen haben. Wir schlingen uns Schals um Kopf und Hals. Ich versuche, so viel wie möglich zu bedecken, selbst Leos kleine rote Nase.
Draußen tut auch das Atmen weh. Mir brennen die Lungen. Neben mir fängt Leo an zu husten.
Am schwarzen Nachthimmel steht der Vollmond und taucht den Schnee in ein bläuliches Licht. Wir alle warten, dicht zusammengedrängt wie Vieh. Viele husten; irgendwo weint ein Kind. Unwillkürlich wünsche ich mir, es wäre Leo. Er ist furchterregend still.
»Was machen wir jetzt, Mama?«, fragt Anja.
»Wir suchen einen Lastwagen. Hier, nimm meine Hand.«
Mir brennen und tränen die Augen, als ich mich in Bewegung setze. Ich trage Leo, und obwohl er so dünn ist, zieht mich sein Gewicht nach unten, so dass ich Mühe habe, mich zu bewegen. Jeder Schritt erfordert meine ganze Konzentration und Willenskraft. Ich muss mich gegen den heulenden Wind stemmen. Das einzig Reale in dieser eisigen blauschwarzen Welt ist die Hand meiner Tochter, die ich umklammere. Irgendwo in der Ferne höre ich einen Motor, erst im Leerlauf, dann heult er auf. Ich hoffe, es ist ein Konvoi.
»Komm«, schreie ich gegen den Wind, oder meine es zumindest. Mir ist so kalt, dass meine Knie weh tun. Es tut sogar weh, meine Finger um Anjas Hand zu schließen.
Ich gehe
Und gehe
Und gehe
Und da ist nichts. Nur Eis, schwarzer Himmel und das ferne Rattern der Luftabwehrgeschütze.
Ich muss mich beeilen , denke ich, und meine Kinder und dann ist Sascha bei mir. Ich spüre die Wärme seines Atems. Er flüstert mir zu, wie sehr er mich liebt und dass wir uns in Alaska ein Haus bauen und dass ich mich ruhig hinlegen darf.
»Nur ganz kurz«, sage ich und sinke schon auf die Knie, bevor ich die Worte ausgesprochen habe.
Dann wird alles ganz still. Irgendwo lacht jemand, und es klingt genau wie Olga. Ich werde sie suchen, sobald ich mich ausgeruht habe. Das denke ich noch.
Dann schließe ich die Augen.
»Mama.«
»Mama.«
» Mama.«
Sie schreit mir ins Gesicht.
Langsam schlage ich die Augen auf und sehe Anja vor mir. Meine Tochter hat ihren Schal abgenommen und wickelt ihn mir um den Hals.
»Du musst aufstehen«, fleht sie und zerrt an mir.
Ich sehe nach unten. Leo liegt schlaff in meinen Armen, sein Kopf ist zurückgekippt. Aber ich spüre, dass er noch atmet.
Ich nehme den Schal von meinem Hals und wickele ihn wieder um Anjas Gesicht. »Nimm nie mehr deinen Schal ab. Gib ihn niemandem. Nicht mal mir.«
»Aber ich hab dich lieb, Mama.«
Da finde ich meine Kraft wieder. Ich beiße die Zähne gegen den kommenden Schmerz
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