Ein Garten im Winter
damit umgegangen. Sie hatte schon früher jegliche Hoffnung auf Zuwendung aufgegeben und die Verschlossenheit ihrer Mutter akzeptiert. In vielerlei Hinsicht war sie ihrer Mutter ziemlich ähnlich. Sie beide brauchten nur Dad.
Nina nickte ihrer Schwester zu und durchquerte den Raum. Als sie bei ihrer Mutter angelangt war, ging sie vor ihr in die Knie. Da überkam sie, unerwartet und untypisch für sie, die Sehnsucht, von ihrer Mutter zu hören, es würde alles wieder gut werden.
»Hey, Mom. Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte.«
»Gut.«
Sie hörte, dass die Stimme ihrer Mutter leicht brüchig war, und dieser Anflug von Schwäche verband sie. Sie wagte es, das schmale, bleiche Handgelenk ihrer Mutter zu berühren. Ihre Venen unter der weißen Haut waren blau und dick, und im Gegensatz dazu wirkte Ninas sonnengebräunte Hand geradezu absurd lebendig. Vielleicht war es dieses eine Mal ihre Mutter, die Trost brauchte. »Er ist ein starker Mann mit einem ausgeprägten Lebenswillen.«
Ihre Mutter blickte so langsam zu ihr herunter wie ein Roboter mit einer fast leeren Batterie. Nina war betroffen, wie alt und müde sie aussah – und gleichzeitig stark. Eine unmögliche Kombination eigentlich, doch ihre Mutter war schon immer eine Frau voller Widersprüche gewesen. Sie hatte sorgfältig darauf geachtet, dass ihre Kinder nie den Garten verließen, doch kaum auf sie geschaut, wenn sie im Haus waren; sie behauptete, es gebe keinen Gott, hatte aber ihren Altar, auf dem stets eine Kerze brannte; sie aß gerade genug, um ihren Körper funktionsfähig zu halten, bestand aber darauf, dass ihre Kinder über ihren Hunger hinaus aßen. »Du glaubst also, das sei wichtig?«
Angesichts der Schärfe in ihrer Stimme wich Nina zurück. »Ich meine, wir müssen einfach daran glauben, dass es ihm wieder bessergehen wird.«
»Er liegt auf Zimmer 434. Er hat nach dir gefragt.«
Nina holte tief Luft und öffnete die Tür zum Zimmer ihres Vaters.
Abgesehen vom mechanischen Summen der Apparate, war es still. Langsam trat sie zum Bett und versuchte, ihre Tränen zu unterdrücken.
Er wirkte schmal, der einst kräftige Mann war so abgemagert, dass er in ein Kinderbett passte.
»Nina.« Das hauchte er so leise, dass sie kaum seine Stimme erkannte. Seine Haut war erschreckend bleich.
Sie zwang sich zu einem Lächeln und hoffte, er würde sich täuschen lassen. Ihr Vater war ein Mann, der Lachen und Spaß stets zu schätzen gewusst hatte. Sie wusste, es würde ihn schmerzen, sie traurig zu sehen.
»Hey, Daddy.« Das rutschte ihr so heraus. Sie hatte ihn seit ihrer Kindheit nicht mehr so genannt.
Er merkte es und lächelte. Es war nur ein blasser Schatten seines früheren Lächelns, und Nina beugte sich zu ihm, um ihm die Spucke vom Mund zu wischen. »Ich hab dich lieb, Daddy.«
»Ich möchte …«, keuchte er mühsam, »nach … Hause.«
Sie musste sich noch weiter vorbeugen, um ihn zu verstehen. »Du kannst nicht nach Hause, Dad. Hier bist du besser versorgt.«
Er griff nach ihrer Hand und drückte sie fest. »Zu Hause sterben.«
Diesmal konnte sie ihre Tränen nicht unterdrücken. Sie spürte, wie sie ihr über die Wangen liefen und auf die weiße Bettdecke tropften. »Nicht …«
Er starrte, immer noch keuchend, zu ihr hinauf. Sie sah, wie das Licht in seinen Augen verlosch und sein Wille erlahmte, und das tat ihr unermesslich weh.
»Das wird nicht leicht. Du weißt ja, dass Meredith immer alles hübsch an seinem Platz haben will. Sie wird dich hier halten wollen.«
Er schenkte ihr ein so mühsames, trauriges Lächeln, dass es ihr das Herz brach. »Du magst nicht, wenn es leicht ist.«
»Das stimmt«, erwiderte sie leise, getroffen von der Erkenntnis, dass niemand mehr sie so gut kennen würde wie er.
Er schloss die Augen und atmete langsam aus. Eine Sekunde lang dachte Nina, sie hätte ihn verloren, er hätte sich einfach entzogen und wäre in die Dunkelheit gegangen, doch dann trösteten die Apparate sie. Er atmete noch.
Sie ließ sich auf den Stuhl neben seinem Bett sinken. Sie wusste, warum er sie um diesen Gefallen gebeten hatte. Natürlich hätte auch die Mutter seine Entlassung erzwingen können, aber Meredith hätte sie dafür gehasst. Ihr Dad hatte sein ganzes Leben damit verbracht, Liebe zu schaffen, wo es keine gab – zwischen seiner Frau und seinen Töchtern –, und nicht mal jetzt konnte er damit aufhören. Er konnte dieses Bedürfnis nur an sie weitergeben und hoffen, seinen Wunsch erfüllt zu
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