Ein Garten im Winter
bekommen. Ihr fiel wieder ein, wie oft er sie seine Regelbrecherin, seine Rebellin genannt hatte und wie stolz er gewesen war, dass sie den Mut hatte, ihre Schlachten auszutragen.
Natürlich würde sie tun, worum er sie gebeten hatte. Es war vielleicht sein letzter Wunsch an sie.
Später am Abend, nachdem alle Vorkehrungen zu Dads Entlassung getroffen waren, ging Nina zu ihrem Mietwagen. Lange Zeit saß sie einfach auf dem Fahrersitz, starrte hinaus auf den dunklen Parkplatz und versuchte, den Streit zwischen ihr und Meredith zu verarbeiten. Nina hatte gewonnen, der Vater wurde entlassen, aber es war nicht leicht gewesen. Schließlich seufzte sie müde, ließ den Wagen an und fuhr vom Krankenhausparkplatz. Schneeflocken zierten ihre Windschutzscheibe, und die Scheibenwischer schufen ständig neue Muster. Der Anblick von Belije Notschi, so verschwommen er auch war, ließ ihr den Atem stocken.
Das Haus, im verschneiten Tal zwischen den Fluss und die Hügel geschmiegt, sah so schön und deplatziert aus wie eh und je. Durch die Weihnachtsbeleuchtung wirkte es noch zauberhafter, fast magisch.
Es hatte sie immer an die Märchen erinnert, die sie einst erzählt bekamen, Märchen voll gefährlicher Magie, voller Drachen und gutaussehender Prinzen. Genauer gesagt, erinnerte es sie an ihre Mutter.
Auf der Veranda stampfte sie sich den Schnee von den Wanderstiefeln und zog die Tür auf. Der Eingang war mit Stiefeln und Mänteln verstopft. Die Küchenanrichte war ein Friedhof leerer Teller und Kaffeetassen. Der kostbare Messingsamowar ihrer Mutter blinkte im Licht der Deckenlampe.
Sie entdeckte Meredith im Wohnzimmer. Sie saß allein da und starrte zum Kamin.
Nina konnte sehen, wie zerbrechlich ihre Schwester in diesem Augenblick war. Ihr fotografischer Blick erfasste jedes winzige Detail: die zitternden Hände, die müden Augen, den steifen Rücken.
Sie streckte die Hand aus und zog ihre Schwester in die Arme.
»Was werden wir ohne ihn sein?«, flüsterte Meredith und klammerte sich an sie.
»Weniger«, war das Einzige, was Nina darauf einfiel.
Meredith wischte sich über die Augen, straffte sich plötzlich und löste sich von ihr, als wäre ihr gerade klargeworden, dass sie einen Moment der Schwäche gehabt hatte. »Ich bleibe heute Nacht hier. Nur für den Fall, dass Mom etwas braucht.«
»Ich kümmere mich um sie.«
»Du?«
»Ja. Wir kommen schon klar. Fahr nach Hause und mach wilden, verrückten Sex mit deinem aufregenden Mann.«
Meredith runzelte die Stirn, als sei schon der Gedanke an solche Vergnügungen abwegig. »Bist du sicher, dass du klarkommst?«
»Ja, ganz sicher.«
»Okay. Ich komme morgen früh herüber, um alles für Dad vorzubereiten. Vergiss nicht, er kommt um eins nach Hause.«
»Ich vergesse es nicht«, sagte Nina und brachte Meredith zur Tür. Kaum war ihre Schwester gegangen, schnappte sie sich Rucksack und Fotoausrüstung vom Küchentisch und stieg die schmale, steile Treppe in den ersten Stock hinauf. Sie ging am Schlafzimmer ihrer Eltern vorbei zu dem Zimmer, das sie und Meredith sich geteilt hatten. Obwohl alles symmetrisch schien – zwei Betten, zwei Schreibtische, zwei weiße Kommoden –, wurde bei näherer Betrachtung offenbar, dass hier zwei sehr unterschiedliche Mädchen gewohnt hatten, die getrennte Lebenswege einschlagen sollten. Selbst als Kinder hatten sie schon wenig gemeinsam gehabt. Soweit Nina sich erinnerte, war das Theaterstück die letzte ihrer gemeinsamen Unternehmungen gewesen.
Ihre Mom hatte den Abend verdorben, und Meredith hatte sich daraufhin verändert. Wie angekündigt, hatte ihre Schwester sich nie wieder eins von Moms Märchen angehört, doch das war leicht gewesen, da die Mutter auch nie wieder eins erzählt hatte. Das hatte Nina am meisten vermisst. Sie hatte die Märchen geliebt. Der weiße Baum, das Schneemädchen, der verzauberte Wasserfall, das Bauernmädchen und der Prinz. Die wenigen Abende, an denen sie ihrer Mom eine Gutenachtgeschichte abschmeicheln konnten, hatte Nina – das wusste sie noch – wie verzaubert der Stimme ihrer Mutter gelauscht und sich von den vertrauten Worten getröstet gefühlt. Sie erzählte die Geschichten jedes Mal genau gleich, obwohl sie kein Buch hatte, aus dem sie vorlas, sondern alles im Kopf hatte. Sie hatte ihnen erklärt, dass Geschichtenerzählen zur russischen Tradition gehörte.
Nach dem Theaterstück hatte Nina versucht, den Bruch zu kitten, den der Zorn der Mutter und Merediths verletzte Gefühle
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