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Ein Garten im Winter

Ein Garten im Winter

Titel: Ein Garten im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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Hand durch seine langen, wirren schwarzen Haare und sah sie mit einer solchen Intensität an, dass sie scharf Luft holte. Dieser Blick ging ihr durch und durch und traf sie bis ins Mark. Langsam griff er nach ihr und zog sie in die Arme, als wären sie allein, zwei Liebende, die alle Zeit der Welt hatten. Mit einem Kuss, der tief, intim, fast primitiv in seiner Heftigkeit war, erhob er Anspruch auf sie. Sie spürte, wir ihr Herz schneller zu klopfen begann und Hitze in ihre Wangen schoss, obwohl diese Reaktion vollkommen unangemessen war. Sie war eine erwachsene Frau, keine furchtsame Jungfrau, und Sex war jetzt das Letzte, woran sie dachte.
    »Vergiss das nicht, Liebste«, sagte er, ließ sie los, löste aber nicht den Blick von ihr.
    Eine Sekunde hatte dieser Kuss ihre Trauer gedämpft, ihre Last gemindert. Fast hätte sie etwas gesagt, fast hätte sie es sich anders überlegt, doch noch bevor sie die richtigen Worte fand, löste er sich von ihr, wandte sich ab und war verschwunden. Erst stand sie wie erstarrt da, dann griff sie nach dem Rucksack, der neben ihr stand, und machte sich auf den Weg.
    Vierunddreißig Stunden später stellte sie ihren Mietwagen auf dem dunklen, schneebedeckten Parkplatz ab und rannte ins Krankenhaus, immer noch betend – wie jede einzelne Minute des Langstreckenflugs –, dass es nicht zu spät war.
    Im dritten Stock fand sie ihre Schwester im Wartezimmer, sie stand wie ein Wachposten neben einem absurd fröhlichen Aquarium mit tropischen Fischen. Nina blieb stehen und hatte plötzlich Angst, etwas zu sagen. Sie und Meredith hatten alles immer unterschiedlich gehandhabt. Schon als Kinder. Nina war oft gefallen und wieder aufgestanden. Meredith hatte sich vorsichtig bewegt und so gut wie nie das Gleichgewicht verloren. Nina hatte Dinge zerbrochen. Meredith hatte sie zusammengehalten.
    Genau das brauchte Nina jetzt, sie wollte von ihrer Schwester zusammengehalten werden. »Mere?«, fragte sie leise.
    Meredith drehte sich um. Selbst aus der Distanz und im fahlen Neonlicht konnte Nina sehen, wie abgespannt und müde ihre Schwester war. Ihr sonst so gepflegtes kastanienbraunes Haar hing wirr herab. Sie hatte kein Make-up aufgelegt, daher wirkten ihre braunen Augen zu groß für ihr bleiches Gesicht, und ihr überdimensionaler Mund war farblos. »Da bist du ja«, sagte sie, ging auf sie zu und nahm sie in die Arme.
    Als Nina sich von ihr löste, fühlte sie sich etwas wackelig und ihr Atem ging stockend. »Wie sieht es aus?«
    »Nicht gut. Er hatte einen zweiten schweren Herzinfarkt. Zuerst wollten sie operieren … aber jetzt meinen sie, das würde er nicht überleben. Der Schaden ist zu groß. Dr. Watanabe glaubt nicht, dass er das Wochenende überlebt. Aber sie haben auch nicht geglaubt, dass er die erste Nacht übersteht.«
    Von Schmerz überwältigt, schloss Nina die Augen. Gott sei Dank hatte sie es noch rechtzeitig zu ihm geschafft.
    Aber wie sollte sie ohne ihn leben? Er war ihre Basis, ihr Polarstern. Der einzige Mensch, der immer auf sie gewartet hatte.
    Langsam öffnete sie die Augen und sah ihre Schwester an. »Wo ist Mom?«
    Meredith trat einen Schritt beiseite.
    Da war sie: eine schöne, weißhaarige Frau auf einem billigen Polsterstuhl. Selbst von ihrem Platz aus konnte Nina sehen, wie kontrolliert ihre Mutter wirkte, geradezu erschreckend gefasst. Sie war weder aufgestanden, um ihre jüngere Tochter zu begrüßen, noch hatte sie auch nur in ihre Richtung geblickt. Stattdessen starrte sie stur geradeaus; in ihrem bleichen Gesicht schienen ihre unnatürlich blauen Augen zu glühen. Wie üblich strickte sie. Wahrscheinlich hatten sie bereits dreihundert Pullover und Decken, die ordentlich gefaltet und gestapelt auf dem Dachboden aufbewahrt wurden.
    »Wie geht es ihr?«, wollte Nina wissen.
    Meredith zuckte mit den Schultern, und Nina wusste, was sie damit sagen wollte. Wer konnte schon sagen, wie es ihrer Mutter ging? Sie war ihnen fremd, ihr Verhalten undeutbar, dabei hatten sie sich Gott weiß wie bemüht. Vor allem Meredith.
    All die Jahre bis zu jener Weihnachtsfeier mit der Aufführung des Theaterstücks war Meredith ihrer Mutter wie ein eifriger Welpe überallhin gefolgt und hatte um Aufmerksamkeit gebettelt. Aber seit jenem demütigenden Abend hatte sich ihre Schwester zurückgezogen und Distanz gehalten. Daran hatte sich in all den Jahren nichts geändert; keine von beiden hatte nachgegeben. Wenn überhaupt, hatten sich die Fronten noch verhärtet. Nina war anders

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