Ein Garten im Winter
verursacht hatten. Doch es war ihr genauso wenig geglückt wie ihrem Vater, und erst als Nina elf war, verstand sie, warum. Bis dahin war sie selbst so oft in ihren Gefühlen verletzt worden, dass sie sich ebenfalls zurückzog.
Sie verließ ihr Zimmer und schloss die Tür.
Beim Elternschlafzimmer verharrte sie und klopfte. »Mom? Hast du Hunger?«
Keine Antwort.
Sie klopfte noch einmal. »Mom?«
Stille.
Sie öffnete die Tür und trat ins Zimmer. Es war spartanisch eingerichtet und makellos aufgeräumt. Ein großes Ehebett, eine antike Kommode, eine jener alten russischen Truhen und ein Regal voller schmaler gebundener Bücher aus dem Buchclub ihrer Mutter.
Doch ihre Mutter war nicht da.
Nina runzelte die Stirn, ging ins Erdgeschoss und rief nach ihr. Sie drohte gerade, in Panik zu geraten, als sie zufällig einen Blick nach draußen warf.
Dort saß sie, auf ihrer Bank im Wintergarten, und blickte auf ihre Hände. Winzig kleine Weihnachtslichter auf dem schmiedeeisernen Zaun ließen den Garten in der dunklen Nacht wie einen Zauberkasten erscheinen. Der sacht fallende Schnee verlieh allem eine leere Aura. Nina ging zum Hausflur und schnappte sich einen Mantel und ein Paar Schneestiefel. Sie zog sie rasch an, ging hinaus und versuchte die Schneeflocken zu ignorieren, die ihr auf den Wangen und Lippen brannten. Dies war genau der Grund, warum sie in Äquatornähe arbeitete.
»Mom?«, sagte sie und trat zu ihr. »Du solltest nicht hier draußen sitzen. Es ist kalt.«
»Es ist nicht kalt.«
Nina hörte die Erschöpfung in ihrer Stimme, und das erinnerte sie daran, wie müde sie selbst war und wie schrecklich der Tag gewesen war und wie furchtbar der nächste werden würde, und so kam es, dass sie sich neben ihre Mutter setzte.
Eine Ewigkeit sprach keine von beiden ein Wort. Schließlich sagte ihre Mutter: »Dein Vater denkt, ich könnte seinen Tod nicht verkraften.«
»Und, kannst du es?«, fragte Nina.
»Du würdest staunen, was das menschliche Herz alles verkraftet.«
Das hatte Nina schon gesehen, auf ihren Reisen quer durch die Welt. Ironischerweise ging es ihr mit ihren Frauenporträts genau darum. »Aber dadurch ist der Schmerz nicht weniger schlimm. Im Kosovo, während des Kriegs, habe ich mal –«
»Erspar mir Einzelheiten über deine Arbeit. Dafür hast du deinen Vater. Kriege interessieren mich nicht.«
Nina war nicht verletzt, zumindest redete sie sich das ein. Sie hätte es wissen müssen, dass jeder Annäherungsversuch an ihre Mutter vergeblich war. »Tut mir leid. Ich wollte nur ein Gespräch in Gang bringen.«
»Lass das.« Sie streckte die Hand aus und berührte die Kupfersäule, die mitten in einem Gewirr nackter brauner Weinranken stand. Hier und dort lugten rote Stechpalmenbeeren aus dem Schnee, gebettet in glänzend grüne Blätter. Natürlich sah ihre Mutter diese Farben nicht. Durch ihren Geburtsfehler konnte sie die wahre Schönheit ihres Gartens nicht wahrnehmen. Meredith hatte nie verstanden, warum jemand, der keine Farben sah, so sehr an Blumen hing, aber Nina wusste um die Magie von Schwarzweißbildern. Manchmal zeigte etwas erst dann sein wahres Selbst, wenn ihm alle Farben entzogen wurden.
»Komm jetzt, Mom«, bat Nina. »Ich mache uns Abendessen.«
»Du kochst doch nicht.«
»Und wer ist schuld daran?«, erwiderte Nina unwillkürlich. »Eine Mutter sollte ihren Töchtern das Kochen beibringen.«
»Ich weiß, ich weiß. Es ist meine Schuld. Alles ist meine Schuld«, erwiderte die Mutter. Sie stand auf, nahm ihr Strickzeug und ging.
Vier
Die Hunde begrüßten Meredith, als wäre sie eine Ewigkeit fort gewesen. Abwesend kraulte sie ihnen die Ohren, ging ins Haus und schaltete auf dem Weg von der Küche zum Wohnzimmer die Lichter an.
»Jeff?«, rief sie.
Doch nur Stille antwortete ihr.
Da tat sie genau das, was sie eigentlich nicht hatte tun wollen: Sie machte sich einen Cola-Rum (mit Schwerpunkt auf Rum) und ging hinaus auf die Veranda. Dort setzte sie sich auf das weiße Korbsofa und starrte auf das mondhelle Tal. In diesem Licht wirkten die Reihen der kahlen Bäume, die ihre knorrigen Äste vor dem schmutzig grauen Schnee in den Himmel reckten, fast unheimlich.
Sie holte die alte Wolldecke aus der Korbtruhe und wickelte sich darin ein. Sie wusste nicht, wie sie ihre Trauer ertragen und das, was auf sie zukam, annehmen sollte.
Sie fürchtete, ohne ihren Vater wie einer dieser schlafenden Apfelbäume zu werden: nackt, verletzlich, allem preisgegeben. Sie hätte sich
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