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Ein Garten im Winter

Ein Garten im Winter

Titel: Ein Garten im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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hinterließ ganz sicher seine Spuren auf dem schneebedeckten Verandageländer.
    Nina hob den Fotoapparat und richtete den Fokus auf Meredith, die mit gezwungenem Lächeln auf ihren Dad hinunterblickte. Sie erfasste die Verletzlichkeit in ihrer Miene, die Traurigkeit in ihrem Blick. Dann konzentrierte sie sich auf ihre Mutter, die neben dem Bett stand und so majestätisch wie Lauren Bacall, so kalt wie Barbara Stanwyck wirkte.
    Dad hingegen wirkte in dem riesigen Bett mit den einfachen weißen Kissen und Decken um ihn herum dünn, alt und gebrechlich. Er blinzelte träge, seine Augenlider mit den Altersflecken senkten sich langsam wie Flaggen auf halbmast und gingen dann wieder auf. Nina sah durch die Kamera, wie sich seine wässrig braunen Augen auf sie richteten. Die Direktheit seines Blicks war ein kleiner Schock.
    »Keine Kameras«, bat er. Seine Stimme war müde und angespannt, kaum noch erkennbar, und irgendwie war dieser Verlust, ihn nicht mehr zu hören, schlimmer als alles andere. Sie wusste, warum er das gesagt hatte. Er kannte sie und wusste, warum die Kamera jetzt so wichtig für sie war.
    Langsam senkte Nina den Fotoapparat und fühlte sich plötzlich nackt und verletzlich. Ohne den Schutzschild ihres Objektivs war sie wirklich hier , und sah ihren Vater sterben. Sie trat zum Bett und blieb neben Meredith stehen. Die Mutter stand auf der anderen Seite. Alle waren jetzt ganz nah beisammen.
    »Ich komme gleich wieder«, sagte die Mutter.
    Dad nickte ihr zu. Der Blick ihrer Eltern zeugte von solcher Intimität, dass Nina sich fast wie ein Eindringling vorkam.
    Kaum war sie weg, sah Dad Meredith an. »Ich weiß, du hast Angst«, sagte er leise.
    »Darüber müssen wir nicht reden«, erwiderte Meredith.
    »Es sei denn, du möchtest es«, sagte Nina und griff nach seiner Hand. »Du hast bestimmt Angst, Dad … vor dem Sterben.«
    »Ach, um Himmels willen«, kam es von Meredith, und sie trat vom Bett zurück.
    Nina wollte es ihrer Schwester nicht erklären, zumindest nicht jetzt. Aber sie lebte schon seit Jahren in ständigem Kontakt mit dem Tod. Sie hatte Menschen friedlich sterben sehen und andere verzweifelt und voller Widerstand. So schmerzhaft der Gedanke auch war, dass ihr Dad sterben würde, so wollte sie ihm doch helfen. Sie strich ihm die weißen Haare aus der altersfleckigen Stirn und sah ihn plötzlich als jüngeren Mann vor sich, als sein Gesicht von der Arbeit im Freien noch sonnengebräunt war. Alles, bis auf seine Stirn, weil er ständig einen Hut trug.
    »Deine Mom«, erklärte er und hatte sichtlich Mühe zu sprechen, »wird ohne mich zusammenbrechen.«
    »Ich kümmere mich um sie, Dad. Versprochen«, sagte Meredith mit unsicherer Stimme. »Das weißt du doch.«
    »Sie kann es nicht noch mal …«, flüsterte Dad. Er schloss die Augen und stieß einen tiefen Seufzer aus. Sein Atem ging immer mühsamer.
    »Was kann sie nicht noch mal?«, wollte Nina wissen.
    »Was soll die Fragerei?«, fauchte Meredith. »Lass das. Er braucht seinen Schlaf.«
    »Aber er hat doch –«
    »Er hat uns gebeten, uns um Mom zu kümmern. Als wäre das überhaupt nötig.« Meredith machte sich an seiner Bettwäsche zu schaffen. Sie benahm sich wie eine übereifrige Krankenschwester. Nina begriff, dass Meredith sich vor lauter Angst beschäftigt hielt. Sie wusste auch, dass ihre Schwester als Nächstes die Flucht ergreifen würde.
    »Bleib«, bat Nina. »Wir müssen reden –«
    »Ich kann nicht«, gab Meredith zurück. »Das Unternehmen pausiert nicht, bloß weil es mir gerade passt. Ich bin in einer Stunde wieder da.«
    Und schon war sie verschwunden.
    Instinktiv griff Nina nach dem Fotoapparat und machte Aufnahmen, nur für sich selbst, nicht, um sie jemandem zu zeigen. Als sie das Objektiv auf ihren Vater richtete und den Fokus auf sein bleiches Gesicht einstellte, ließen ihre Tränen, die sie bis jetzt zurückgehalten hatte, ihn zu einem grauweißen Fleck inmitten des riesigen Himmelbetts verschwimmen. Ich hab dich lieb , wollte sie sagen, aber die Wörter hatten Haken, die sich nicht lösen lassen wollten.
    Leise verließ sie das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Im Flur kam sie an ihrer Mutter vorbei, und als ihre schmerzerfüllten Blicke sich eine Sekunde lang trafen, streckte Nina den Arm aus.
    Die Mutter wich ihr aus, ging ins Schlafzimmer zurück und schloss die Tür.
    Da war es: ihre ganze Kindheit wiederholt in einem allzu stillen Flur. Das Schlimmste war, sie hätte es besser wissen

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