Ein Garten im Winter
dem Telefon, um Danny anzurufen, legte aber wieder auf, noch bevor das Freizeichen ertönte. Was sollte sie zu ihm sagen? Wie konnten Worte einen solchen Schmerz lindern? Da sah sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung im Garten, etwas Dunkles auf Weiß.
Sie ging zum Fenster.
Ihre Mutter war da draußen, im Schnee, und stapfte hinüber zum Treibhaus.
Nina eilte nach unten, zog sich den geliehenen Mantel und die feuchten Stiefel wieder an und ging dann am Küchenfenster vorbei über die Terrasse. Sie sah, dass Meredith telefonierte, ihr Gesicht war kreidebleich, ihre Lippen zitterten. Nina wusste nicht mal, ob ihre Schwester sie vorbeigehen sah.
Sie nahm die Seitentreppe und stieg in den dicken Schneedamm an der Hausseite. Nach ein paar Schritten fand sie den von der Mutter gebahnten Pfad und trat in ihre Fußspuren.
Am Treibhaus hielt sie kurz inne, um Mut zu sammeln, und zog dann die Tür auf.
Ihre Mutter war nur in Nachthemd und Schneestiefeln. Sie kniete auf dem Boden, zog winzige Kartoffeln aus der Erde und warf sie auf einen Haufen.
»Mom?«
Auch nach zweimaliger Wiederholung bekam sie keine Antwort. Schließlich sagte sie in scharfem Tonfall »Anja« und trat zu ihr.
Sie hielt inne und blickte sich um. Ihre langen weißen Haare hingen ihr wirr ins bleiche Gesicht. »Wir haben Kartoffeln. Wenn er isst, wird es ihm bessergehen …«
Nina kniete sich neben ihrer Mutter auf die Erde. Es machte ihr Angst, sie zu sehen, aber seltsamerweise tröstete es sie auch. Dieses eine Mal fühlten sie dasselbe. »Hey, Mom«, sagte sie und berührte sie an der Schulter.
Sie starrte Nina an und runzelte langsam die Stirn. Verwirrung trübte ihre strahlend blauen Augen. Sie schüttelte den Kopf und stieß einen Laut aus, der wie Schluckauf klang. Auf einmal glitzerten Tränen in ihren Augen und die Verwirrung schwand. »Kartoffeln werden auch nicht helfen.«
»Nein«, sagte Nina leise.
»Er ist fort. Evan ist fort.«
»Komm jetzt«, bat Nina, fasste sie am Ellbogen und half ihr auf die Beine. Sie traten aus dem Treibhaus in den verschneiten Garten.
»Lass uns wieder reingehen«, sagte Nina.
Die Mutter beachtete sie nicht und stapfte in den wadenhohen Schnee. In dem leichten Wind blähten sich ihr Haar und das Nachthemd hinter ihr. Schließlich setzte sie sich auf die schwarze Bank in ihrem Garten.
Natürlich.
Nina folgte ihr. Sie zog den Mantel aus und legte ihn ihr über die Schultern.
Fröstelnd trat sie einen Schritt zurück und setzte sich auf die Bank. Sie meinte zu wissen, was ihrer Mutter so an dem Garten gefiel: Er war geordnet und eingefasst. Vor der weitläufigen Obstplantage wirkte er wie ein geschützter Raum. Farbe bekam er, abgesehen von den Sommerblumen und Herbstblättern, nur durch eine einzelne, mit schlichten Ornamenten versehene Kupfersäule, die eine weiße Marmorschale trug. Im Frühjahr würde diese von weißen Hängeblumen überquellen.
»Ich will nicht, dass er begraben wird«, sagte ihre Mutter. »Nicht in zufrierender Erde. Wir werden seine Asche verstreuen.«
Als Nina wieder den vertrauten stählernen Unterton in der Stimme ihrer Mutter hörte, vermisste sie fast das Surreale von der Szene kurz zuvor. Die Frau im Treibhaus hatte zumindest etwas gefühlt. Aber diese Frau hier, ihre Mutter, hatte ihre Beherrschung wiedererlangt. Wie gern hätte sie sich an sie gelehnt und geflüstert: Ich werde ihn vermissen, Mommy , so als wäre sie ein kleines Mädchen. Aber die ungeschriebenen Gesetze der Kindheit waren schwer zu brechen, auch noch Jahrzehnte später. »Ist gut, Mom«, sagte sie schließlich.
Eine Minute später stand sie auf. »Ich gehe jetzt rein. Meredith wird Hilfe brauchen. Bleib nicht zu lange draußen.«
»Warum nicht?«, fragte ihre Mutter und starrte auf die Kupfersäule.
»Du könntest dir eine Lungenentzündung holen.«
»Du meinst, die Kälte brächte mich um? So viel Glück habe ich nicht.«
Nina legte eine Hand auf die Schulter ihrer Mutter und spürte, wie sie zusammenzuckte. Albernerweise war Nina verletzt. Selbst jetzt, da sie gemeinsam Dads Tod betrauerten, wollte ihre Mom nur allein sein.
Nina ging zurück ins Haus und stellte fest, dass Meredith immer noch in der Küche telefonierte. Als sie eintrat, legte Meredith auf und drehte sich zu ihr um. Als sie sich ansahen, erkannten sie, dass es von nun an immer so sein würde. Jetzt waren sie nur noch zu dritt: sie und Mom und Meredith. Von nun an würden sie ein lose verbundenes Dreieck sein und kein Kreis, den
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