Ein Garten im Winter
er geschaffen hatte. Bei diesem Gedanken wäre sie am liebsten sofort zum Flughafen geflüchtet. »Gib mir eine Liste mit Telefonnummern. Ich helfe dir bei den Anrufen.«
Über vierhundert Menschen hatten die kleine Kirche gefüllt, um sich von Evan Whitson zu verabschieden; einige Dutzend waren nachher noch nach Belije Notschi mitgekommen, um zu kondolieren und ihr Glas auf ihn zu erheben. Ausgehend von dem Geschirr, das Meredith gespült hatte, waren sehr viele Gläser gehoben worden. Wie erwartet, war Nina eine vollendete Gastgeberin gewesen, hatte mühelos mitgetrunken und die Gäste über ihren Dad sprechen lassen. Die Mutter hatte sich hoch erhobenen Hauptes durch die Menge bewegt, ohne sich irgendwo länger aufzuhalten, und Meredith hatte die Schwerstarbeit im Hintergrund geleistet. Sie hatte das Essen organisiert und die Tische gedeckt, hatte dafür gesorgt, dass es genügend Teller, Besteck, Servietten und Gläser gab und auch das Eis nicht vergessen. Fast ununterbrochen hatte sie Geschirr gespült. Zweifellos tat sie das, was sie immer tat, wenn sie Probleme hatte: Sie versteckte sich hinter endlosen Plänen und Pflichten. Aber im Grunde fühlte sie sich auch nicht in der Lage, sich unter Freunde und Verwandte zu mischen und Erinnerungen an ihren Vater anzuhören. Ihre Trauer war noch zu frisch, zu wund, um in trunkenen Händen herumgereicht zu werden.
Merediths Arme steckten bis zu den Ellbogen in Spülwasser, als gegen Mitternacht Jeff zu ihr in die Küche kam. Er nahm sie in die Arme und drückte sie an sich. Es fühlte sich an, als würde sie nach einer langen Reise nach Hause kommen, und jetzt kamen ihr die Tränen, die sie die letzten Tage und auch während der quälenden Trauerfeier zurückgehalten hatte. Er hielt sie fest, strich ihr wie einem Kind übers Haar und sagte immer und immer wieder die großartige Lüge: Ist schon gut, ist ja schon gut. Als sie keine Tränen mehr hatte, löste sie sich zittrig von ihm und versuchte zu lächeln. »Da habe ich wohl eine Menge aufgestaut.«
»So bist du eben.«
»Das klingt, als ob das etwas Schlechtes wäre. Soll ich vielleicht einfach zusammenbrechen?«
»Vielleicht?«
Meredith schüttelte den Kopf. Wenn er so etwas sagte, kam sie sich nur noch isolierter vor. Offenbar meinte er, sie sei eine Vase, die man eben einfach wieder zusammenklebte, wenn sie zerbrach. Aber sie wusste, wenn das Schlimmste passierte, wenn sie wie Glas zersprang, dann würden Teile von ihr für immer verlorengehen.
»Ich hab das auch schon erlebt«, sagte er. »Du hast mir beim Tod meiner Eltern geholfen. Jetzt lass mich dir helfen.«
»Ich komme klar. Wirklich. Ich breche später zusammen.«
»Meredith –«
»Lass mich!« Das kam schärfer als beabsichtigt heraus, und sie bemerkte, dass sie ihn verletzt hatte, aber sie hielt sich nur noch so gerade eben aufrecht. Sie hatte keine Kraft mehr, um sich Gedanken um andere zu machen. »Ich will nur sagen: Mach dir keine Sorgen. Ich kümmere mich um alles. Die Mädchen sind müde. Bring sie doch nach Hause.«
»Gut«, sagte er, aber es lag etwas Distanziertes in seinem Blick, das ihr neu war.
Nachdem alle gegangen waren, stand Meredith allein in der sauberen, ordentlichen Küche und schon wünschte sie, sie hätte sich anders verhalten. Aber wie schwer wäre es gewesen zu sagen: Ja, Jeff, bring mich nach Hause und halt mich fest …
Sie warf den Spüllappen auf die Arbeitsfläche und verließ den Schutz der mütterlichen Küche.
Im Wohnzimmer fand sie Nina. Sie stand allein vor einer Staffelei mit einem riesigen Porträt ihres Vaters. Mit ihrer zerknitterten Khakihose, dem schwarzen Pulli und dem zerzausten Haar sah sie nicht aus wie eine weltbekannte Fotografin, sondern eher wie ein Teenager vor seiner ersten Safari.
Aber Meredith bemerkte die Trauer in ihren grünen Augen. Tränen schimmerten darin wie Wasser in einem Glas, das jeden Moment überzuquellen drohte. Sie wusste, Nina war genau wie sie: Keine von beiden wusste, wie man die Trauer ausdrücken oder auch nur wirklich zulassen sollte, und es tat ihr leid um sie beide, genau wie um die Frau, die oben in ihrem verwaisten Bett lag und denselben Verlust erlitt. Sie wünschte, sie könnten einfach zusammenkommen und gemeinsam trauern, um den Schmerz, zumindest teilweise, loszulassen. Aber das war ihnen nicht gegeben. Sie stellte ihr Weinglas ab und ging zu ihrer kleinen Schwester, die sie einst angefleht hatte, sich an die Märchen ihrer Mutter zu erinnern und sie
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