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Ein Garten im Winter

Ein Garten im Winter

Titel: Ein Garten im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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gehen wir erst mal nach unten.« Sie nahm ihre Mutter beim Arm und hatte zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl, die Stärkere zu sein.
    »Er ist meine Heimat«, sagte ihre Mutter und schüttelte den Kopf. »Wie soll ich ohne ihn leben?«
    »Wir sind noch da, Mom«, erwiderte Meredith und wischte sich die Tränen weg. Es war ein dürftiger Trost, der den Schmerz in ihrer Brust nicht im Mindesten linderte. Ihre Mutter hatte recht. Er war ihre Heimat, der Mittelpunkt ihres Zuhauses. Wie würden sie ohne ihn leben können?
    Nina war schon vor Sonnenaufgang in den Obstgarten gegangen, um sich mit Fotografieren abzulenken. Eine Weile war ihr das auch gelungen. Sie war fasziniert von den skelettartigen Apfelbäumen, die durch die Eiszapfen an ihren Ästen zu kristallinen Kunstwerken geworden waren. Ihre Silhouetten vor einem orange- und pinkfarbenen Himmel waren höchst beeindruckend. Ihrem Dad würden die Porträts seiner geliebten Bäume gefallen.
    Heute würde sie das tun, was sie schon seit Jahren hätte tun sollen: Sie würde eine Fotoserie von Apfelbäumen zusammenstellen und vergrößern. Jeder Baum war ein Zeugnis für das Lebenswerk ihres Vaters, und er würde die sichtbaren Beweise dessen, was er geleistet hatte, lieben. Vielleicht konnte sie auch Familienfotos sichten (nicht, dass es viele gab) und alte Aufnahmen der Obstplantage verwenden.
    Schließlich steckte sie die Schutzkappe auf das Objektiv, wandte sich um und sah hinüber zu Belije Notschi, dessen Spitzdach kupferrot im Licht des neuen Tages leuchtete. Es war noch zu früh, um ihrem Vater einen Kaffee zu bringen, und ihre Mutter würde ganz sicher nicht mit ihrer jüngeren Tochter am Küchentisch sitzen wollen, daher packte Nina ihre Ausrüstung zusammen und machte sich auf den langen Weg zum Haus ihrer Schwester. Da ihr Ausgangspunkt weit im hinteren Teil der Obstplantage lag, war sie ziemlich außer Atem, als sie endlich dort ankam.
    Sie konnte kaum glauben, dass ihre Schwester jeden Tag diese Strecke lief.
    Als sie das alte Farmhaus erreichte, musste sie unwillkürlich lächeln. Jeder Zentimeter des Hauses war für Weihnachten geschmückt. Allein für die Beleuchtung musste der arme Jeff Monate gebraucht haben.
    Aber das war keine Überraschung. Meredith hatte Weihnachten schon immer geliebt.
    Nina klopfte an die Haustür und zog sie auf.
    Sofort wurde sie begeistert von den Hunden begrüßt.
    »Tante Nina!«, rief Maddy, rannte zu ihr und umarmte sie stürmisch. Die Zusammenkunft am Abend zuvor war für sie beide zu distanziert gewesen.
    »Hey, Mad«, sagte Nina lächelnd. »Ich erkenn dich ja kaum wieder. Du siehst umwerfend aus.«
    »Ach ja, war ich früher denn so eine Vogelscheuche?«, konterte Maddy im Scherz.
    »Allerdings«, meinte Nina grinsend. Maddy nahm sie bei der Hand und ging mit ihr in die Küche, wo Jeff am Tisch saß und die New York Times las, während Jillian Pancakes machte.
    Nina hielt einen Augenblick inne. Der Abend zuvor war so surreal gewesen – das dunkle Zimmer, das Märchen und all die unausgesprochene Trauer –, dass sie kaum dazu gekommen war, ihre Nichten wirklich zu sehen . Das holte sie jetzt nach. Maddy wirkte mit ihren schlaksigen Gliedern, ihren langen, wilden braunen Locken, den dichten Augenbrauen und dem überdimensionalen Mund immer noch sehr jung, aber Jillian war bereits eine Frau. Mit ihrer ernsten, gefassten Art konnte man sie sich schon leicht als Ärztin vorstellen. Eine unsichtbare, aber deutlich erkennbare Linie trennte das rundliche blonde Mädchen von einst, das im Sommer Käfer gesammelt und sie in Becherlupen studiert hatte, und die junge Dame, die jetzt dort am Herd stand. Maddy hingegen sah immer noch so aus wie Meredith in ihrem Alter, allerdings war sie viel munterer, als Meredith es sich je zugestanden hatte.
    Seltsamerweise spürte Nina nun, da sie die Gesichter ihrer erwachsenen Nichten betrachtete, wie sehr auch sie gealtert war. Zum ersten Mal in ihrem Leben erkannte sie, dass sie sich der Mitte ihres Lebens näherte. Sie war nicht mehr jung. Natürlich hätte ihr diese Erkenntnis auch früher kommen können, aber wenn man allein lebte und nur tat, was man wollte, schien die Zeit irgendwie stillzustehen.
    »Hey, Tante Neens«, sagte Jillian und nahm den letzten Pancake vom Herd.
    Nina umarmte Jillian, nahm eine Tasse Kaffe von ihr entgegen und trat zu Jeff. »Wo ist Meredith?«, erkundigte sie sich und drückte ihm leicht die Schulter.
    Er legte die Zeitung beiseite. »Sie ist nach

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