Ein Garten im Winter
klar. Du kümmerst dich um wirklich Wichtiges . Ich hingegen leite nur das Familienunternehmen, kümmere mich um unsere Eltern und räume hinter meiner berühmten Schwester her.«
»Das hab ich nicht gemeint.«
Meredith drehte sich zu ihr um. »Natürlich nicht.«
Nina fühlte sich, als würden durch den Blick ihrer Schwester all ihre Fehler aufgedeckt. »Ich bin doch hier, oder etwa nicht?«
»Nein. Eigentlich nicht.« Meredith griff nach dem Reinigungsmittel und begann, die weiße Keramikspüle zu schrubben.
Nina trat näher zu ihrer Schwester. »Tut mir leid.« Sie wusste nicht, was sie sonst noch sagen sollte.
Meredith wandte sich ihr wieder zu. Sie wischte sich mit der Hand über die Stirn und hinterließ dort eine Schaumspur. »Wie lange bleibst du noch?«
»Nicht mehr lange. Die Lage in Sierra Leone –«
»Erspar mir das. Du läufst schon wieder weg«, unterbrach Meredith sie und schien fast zu lächeln. »Ach, zum Teufel noch mal, ich würd’s ja auch tun, wenn ich könnte.«
Nina spürte, wie sich ihr altvertrautes Schuldgefühl regte. Es stimmte, sie lief weg – vor ihrer gefühlskalten Mutter, vor ihrem leeren Elternhaus, vor ihrer spröden, tüchtigen Schwester und den Erinnerungen, die hier lauerten. Davor vielleicht am meisten. Sie bedauerte, was sie Meredith mit ihrer Flucht antat, und auch, dass sie das Versprechen ihrem Vater gegenüber brach, doch das reichte bei Gott nicht, um sie hier zu halten. »Was ist mit seiner Asche?«
»Sie will sie im Mai, an seinem Geburtstag, verstreuen. Wenn der Boden nicht mehr gefroren ist.«
»Dann komme ich zurück.«
»Zweimal in einem Jahr?«
Nina sah sie an. »Es ist auch ein besonderes Jahr.«
Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde Meredith zusammenbrechen, als würde sie einfach loslassen und zu weinen anfangen, und Nina spürte, wie auch ihr die Tränen kamen.
Doch dann sagte Meredith: »Vergiss aber nicht, dich von den Mädchen zu verabschieden. Du weißt doch, wie sehr sie dich anbeten.«
»Ist gut.«
Meredith nickte kurz und wischte sich über die Augen. »Ich muss in einer Stunde wieder im Büro sein. Vorher wollte ich noch staubsaugen.«
Das übernehme ich , wollte Nina sagen – als letzten Versuch –, aber nun, da sie sich entschlossen hatte zu gehen, fühlte sie sich wie ein Rennpferd am Start. Sie wollte einfach nur losrennen. »Ich gehe packen.«
Am Abend, als Nina ihre Habseligkeiten im Rucksack verstaut und in den Wagen gepackt hatte, machte sie sich schließlich auf die Suche nach ihrer Mutter.
Sie fand sie vor dem Kamin, wo sie in eine Decke gewickelt saß.
»Du fährst also«, sagte ihre Mutter, ohne aufzublicken.
»Meine Verlegerin hat angerufen. Sie brauchen mich für eine Reportage. Es ist schrecklich, was in Sierra Leone passiert.« Nina setzte sich vor den Kamin. Sie erschauerte wegen der plötzlichen Wärme. »Man muss der Welt zeigen, was dort vor sich geht. Dort sterben Menschen. Es ist tragisch.«
»Und du meinst, du könntest das mit deinen Fotos?«
Nina spürte die Kränkung dieser zynischen Bemerkung. »Krieg ist schrecklich, Mom. Es ist einfach, sicher in einem schönen Haus zu sitzen und über meine Arbeit zu urteilen. Aber wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe, würdest du anders darüber denken. Was ich tue, kann etwas bewirken. Dir ist einfach nicht klar, wie sehr manche Menschen in dieser Welt leiden müssen, und wenn das niemand sieht –«
»Wir werden die Asche deines Vaters an seinem Geburtstag verstreuen. Mit dir oder ohne dich.«
»Ist gut«, sagte Nina ruhig, dachte: Dad hat mich verstanden , und spürte, wie der Schmerz sie wieder durchströmte.
»Dann auf Wiedersehen und fröhliche Weihnachten.«
Nach dieser Bemerkung verließ Nina Belije Notschi. Sie blieb kurz auf der Veranda stehen, überblickte das Tal und sah zu, wie der Schnee darauf rieselte. Ihr geschultes Auge erfasste alles, registrierte es und prägte sich jedes Detail ein. In neununddreißig Stunden würde nicht Schnee, sondern Staub um sie herumwirbeln, ihre Schultern und Stiefel bedecken, und unter der sengenden Sonne würden die Bilder von diesem Ort verblassen, bis sie, nicht lange darauf, ganz verschwunden sein würden. Ihre Familie – und vor allem ihre Mutter – würde zu Schemen der Erinnerung werden, die Nina lieben konnte – aus der Ferne.
Sechs
Die ersten Wochen nach dem Tod ihres Vaters überstand Meredith mit reiner Willenskraft und einem Stundenplan, der dichter und anspruchsvoller
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