Ein Garten im Winter
blätterte eine alte National Geographic durch. »Hey, das ist mein Foto. Damit hab ich den Pulitzer-Preis gewonnen«, erklärte sie lächelnd und zeigte auf das doppelseitige Bild.
»Ich habe heute mit Dr. Burns gesprochen.«
Nina legte die Zeitschrift beiseite.
»Er … ist mit mir einer Meinung, dass das Pflegeheim nicht das Richtige für Mom ist.«
»Ach, sieh mal einer an«, meinte Nina.
Meredith ließ sich nicht provozieren, sondern hielt den Blick starr auf ihre Mutter gerichtet. »Aber wir finden beide auch, dass dieses Haus zu groß ist, als dass du allein damit zurechtkommen könntest. Jim hat etwas Schönes in Wenatchee gefunden. Einen Apartment-Komplex für Senioren. Er meint, du könntest ein schönes Ein-Zimmer-Apartment mit eigener Küche bekommen. Aber wenn du nicht kochen möchtest, gibt es auch einen Speisesaal. Es ist direkt in der Innenstadt. Du könntest zu Fuß alle Geschäfte und den Strickladen erreichen.«
»Und mein Wintergarten?«, warf die Mutter ein.
»Das Apartment hat auch einen kleinen Garten. Du könntest den Wintergarten dorthin verlegen. Die Bank, den Zaun, die Säulen. Alles.«
»Sie muss nicht umziehen«, protestierte Nina. »Ihr Zuhause ist hier, und ich kann ihr helfen.«
Da endlich verlor Meredith die Geduld. »Ach ja, Nina? Wie lange können wir denn auf dich zählen? Oder wird das wieder wie bei meiner Hochzeit?«
»In der Woche gab es ein Attentat «, entgegnete Nina und wirkte plötzlich, als wäre ihr unbehaglich.
»Oder wie an Dads siebzigstem Geburtstag? Was war denn da noch mal? Eine Flutkatastrophe, nicht wahr? Oder doch ein Erdbeben?«
»Ich werde mich nicht für meine Arbeit entschuldigen.«
»Das verlange ich auch nicht. Ich meine nur, dass du vielleicht die besten Absichten hast, aber wenn morgen etwas Schreckliches in Indien passiert, sehen wir dich nur noch von hinten. Ich kann nicht ständig bei Mom sein, und sie kann nicht ständig allein sein.«
»Und dadurch würde es leichter für dich«, sagte die Mutter.
Meredith suchte nach Anzeichen von Sarkasmus oder Verachtung oder auch nur Verwirrung, sah aber nur Resignation. Es war eine Frage gewesen, keine Anklage. »Ja«, sagte sie und fragte sich, warum sie sich mit dieser Bestätigung vorkam, als hätte sie ihren Vater im Stich gelassen.
»Dann ziehe ich um. Mir ist es ohnehin egal geworden, wo ich lebe«, erklärte ihre Mutter.
»Ich packe alles zusammen, was du brauchst«, erbot sich Meredith. »Dann ist alles für einen Umzug im nächsten Monat bereit. Du musst dich um nichts kümmern.«
Die Mutter stand auf. Sie sah Meredith an, und ihre blauen Augen waren ganz sanft. Es dauerte nicht länger als den Bruchteil einer Sekunde – dann war es vorbei. Sie machte auf dem Absatz kehrt und stieg die Treppe hinauf. Kurz darauf hörte man ihre Schlafzimmertür knallen.
»Sie gehört nicht in irgendein besseres Altersheim«, sagte Nina.
Jetzt verspürte Meredith wirklich Hass auf ihre Schwester. »Und was gedenkst du zu unternehmen?«
»Wie meinst du das?«
»Wirst du für eine ständige Betreuung bezahlen, die sich ums Einkaufen, Putzen und Rechnungzahlen kümmert? Oder willst du uns versprechen, die nächsten Jahre hierzubleiben? Ach nein, deine Versprechen sind ja einen Dreck wert.«
Nina stand langsam auf und blickte Meredith ins Gesicht. »Ich bin nicht die Einzige in dieser Familie, die ihr Versprechen bricht. Du hast ihm versprochen, dich um Mom zu kümmern.«
»Genau das tue ich auch.«
»Ach, ja? Was, wenn er jetzt hier wäre und dich von Verlegung des Wintergartens, Zusammenpacken und Umziehen reden hörte? Wäre er dann stolz auf dich, Meredith? Würde er sagen: Gut gemacht! Danke, dass du dein Wort gehalten hast? Ich glaube nicht.«
»Er würde es verstehen«, erwiderte Meredith und wünschte, ihre Stimme wäre nicht so zittrig.
»Nein, er würde es nicht verstehen, und das weißt du auch.«
»Du verdammtes Miststück«, sagte Meredith. »Du hast ja keine Ahnung, wie sehr ich mich abgemüht habe … wie sehr ich mir gewünscht habe …« Ihr brach die Stimme, und sie spürte einen Kloß im Hals. »Du verdammtes Miststück«, wiederholte sie, brachte aber nicht mehr heraus als ein Flüstern. Sie wirbelte herum und rannte fast zur Haustür. Als sie sie aufriss, roch sie, dass das Gulasch anbrannte, und lief hinaus.
Sie knallte die Wagentür zu und umklammerte das Lenkrad. »Es ist sehr leicht, so selbstgerecht zu sein, wenn man nie da ist«, murmelte sie und startete den
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