Ein Garten im Winter
Esszimmer, wo sie wie eine Besessene den Tisch deckte, Geschenke einpackte oder die Weihnachtsdekoration anbrachte.
Sie war nicht dort gewesen, wohin sie gehörte, und hatte Erinnerungen mit ihrem Mann und ihren Kindern geschaffen. Vielleicht hatte sie die Zeit für dehnbarer oder die Liebe für großzügiger gehalten. Sie legte das Foto in den Ordner zurück und zog eine weitere Schublade auf. Als sie hineingriff, hörte sie Schritte, das Schlagen einer Tür und Ninas Stimme im Wohnzimmer.
Natürlich. Die beginnende Nacht hatte Nina ins Haus zurückgelockt, wo sie eine Leidenschaft – ihre Fotografie – gegen eine andere austauschen konnte: das Märchen.
Meredith griff nach einem Ordner, zog ihn heraus und sah, dass das Etikett zum Teil abgelöst worden war. Sie konnte nur noch Eãîa Nãóîcáìa entziffern. Sie war sich ziemlich sicher, dass es kyrillische Buchstaben waren.
Im Ordner fand sie einen einzelnen Brief, der zwanzig Jahre zuvor in Anchorage, Alaska, aufgegeben und an Mrs Evan Whitson adressiert worden war.
Liebe Mrs Whitson,
vielen Dank für die prompte Beantwortung meiner Anfrage. Obwohl ich sicher bin, dass Sie mir wertvolle Informationen über meine Leningrad-Forschungsarbeit geben könnten, habe ich vollstes Verständnis für Ihre Entscheidung. Sollten Sie jemals Ihre Meinung ändern, würde ich mich über Ihre Mitarbeit freuen.
Hochachtungsvoll
Wassili Adamowitsch
Professor für Russische Studien
Universität von Alaska
Sie hörte durch die offene Tür hinter ihr, wie Nina etwas zu ihrer Mutter sagte, danach folgte langes, gewichtiges Schweigen. Schließlich antwortete ihre Mutter, dann sagte Nina etwas, und am Ende begann ihre Mutter zu sprechen.
Das Märchen. Ganz unverkennbar wegen des Tonfalls der Mutter.
Meredith zögerte. Sie befahl sich, zu bleiben, wo sie war, versicherte sich, dass dies sie nichts anging, sie nichts angehen durfte, dass ihre Mom es nicht zulassen würde, doch als sie den Namen Vera hörte, faltete sie den seltsamen Brief, steckte ihn zurück in den Umschlag und legte ihn auf den Behalten- Stapel.
Dann stand sie auf.
Dreizehn
Nina legte ihre Kamera auf den Couchtisch und ging zu ihrer Mutter, die auf dem Lieblingssessel des Vaters saß und strickte. Trotz des warmen Frühlingsabends war es kühl im Wohnzimmer, daher machte Nina Feuer im Kamin.
»Bist du so weit?«, fragte sie ihre Mutter.
Sie sah auf. Ihr Gesicht war bleich und etwas hohlwangig, aber ihre Augen wirkten klar und strahlend wie immer. »Wo waren wir stehen geblieben?«
»Ach, Mom. Das weißt du doch.«
Sie starrte Nina eine lange Weile nur an und sagte dann: »Das Licht.«
Nina löschte alle Lampen im Wohnzimmer und im Flur. Nun bildete der Kamin den leuchtenden Mittelpunkt der Finsternis. Nina ließ sich auf dem Fußboden vor dem Sofa nieder. Einen Augenblick lang war es fast unnatürlich still, so als hielte das ganze Haus den Atem an. Dann knackte das Feuer und irgendwo knarrte eine Holzdiele. Das Haus machte sich zum Zuhören bereit.
Langsam begann ihre Mutter: » Vera verändert sich in dem Jahr, das auf die Einkerkerung ihres Vaters im Roten Turm folgt. Aus dem Kind wird eine Persönlichkeit, und im Schneereich ist das in jenen dunklen Zeiten gefährlich. Vera ist nicht länger ein gewöhnliches Bauernmädchen, die Tochter eines armen Schullehrers vom Lande. Sondern sie ist die älteste Tochter eines verfemten Dichters, eines Feindes des Reichs. Sie muss vorsichtig sein. Immer.
Die ersten Wochen ohne ihren Vater sind seltsam. Ihre Nachbarn meiden ihren Blick. Wenn sie abends die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufsteigt, schlagen nacheinander alle Türen zu.
In diesen Tagen sind die schwarzen Kutschen allgegenwärtig, genau wie Gerüchte von Menschen, die verhaftet wurden, die in Rauch aufgingen und für immer verschwanden. Als Vera siebzehn wird, kann sie bereits Schicksalsgefährten erkennen. Angehörige von Verhafteten benehmen sich wie Opfer, sie lassen die Schultern hängen, senken den Blick und versuchen, sich kleiner zu machen. Unsichtbar.
Auch Vera verhält sich jetzt so. Sie verbringt keine Zeit mehr vor dem Spiegel, um sich hübsch zu machen.
Sie versucht nur durchzukommen. Jeden Morgen steht sie früh auf und zieht sich ein schwarzes unauffälliges Kleid an. Kleider sind nicht mehr wichtig für sie. Es kümmert sie auch nicht, dass ihre Schuhe hässlich sind und ihre Strümpfe nicht zueinander passen. So angezogen, macht sie jeden Morgen Frühstück für ihre
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