Ein Garten im Winter
euer Vater meint, ich sollte Klavier spielen lernen.«
Als Nina das Wort meint hörte, blickte sie auf. Einen Augenblick lang sahen sich alle drei an.
Die Mutter wandte als Erste den Blick ab. »Er meinte es. Du musst mich nicht gleich zum Arzt schleppen, Meredith«, fügte sie hinzu. »Ich weiß, dass er nicht mehr da ist.«
Meredith nickte nur.
Nina unterbrach das peinliche Schweigen. »Meine Lieblingstageszeit ist bei Sonnenuntergang. Vor allem in Botswana während der Trockenzeit. Ich liebe es, Antworten zu bekommen. Und ich meine, es gibt einen Grund dafür, dass Mom uns so gut wie nie ansieht.«
»Du suchst nach Gründen?«, erwiderte sie. »Dann muss ich dich enttäuschen. Jetzt esst. Ich hasse es, wenn das Essen kalt wird.«
Nina erkannte am Ton ihrer Mutter, dass der Spaß ihrer kleinen Tradition zu Ende war. Der Rest der Mahlzeit verlief in Schweigen. Man hörte nur noch, wie ihre Löffel über die Porzellanteller schabten und die Weingläser auf dem Holztisch abgesetzt wurden. Nach dem Essen stand Meredith auf und ging zur Spüle. Die Mutter schritt sehr aufrecht aus der Küche.
»Ich lass mir heute Abend das Märchen weitererzählen«, meinte Nina zu Meredith, die gerade das Besteck abtrocknete.
Sie drehte sich weder um, noch antwortete sie.
»Du könntest –«
»Ich muss Dads Arbeitszimmer sichten«, sagte Meredith. »Ich brauche ein paar seiner Akten im Büro.«
»Bist du sicher?«
»Ganz sicher. Ich hab’s schon zu lange aufgeschoben.«
In jedem Haus gibt es Plätze, die nur einem Bewohner gehören. Ganz gleich, wie viele dort wohnen, wie viele kommen und gehen, nur ein Einziger gehört wirklich dorthin. In Merediths Haus gehörte die Veranda ihr. Jeff und die Mädchen benutzten sie zwar, aber nur selten, zum Beispiel bei Sommerpartys. Meredith hingegen liebte ihre Veranda so, dass man sie sommers wie winters auf der Rattanschaukel antraf.
In Belije Notschi hingegen gehörte fast jedes Zimmer ihrer Mom. Überall in der Gestaltung und Möblierung zeigte sich, dass sie keine Farben sehen konnte. In der Küche zum Beispiel an den weißen Wänden, den weißen Kacheln und den antiken Holzmöbeln. Farbe sah man im ganzen Haus nur spärlich: an den Matrjoschka-Puppen auf der Fensterbank, den vergoldeten Ikonen auf dem Altar und dem Troika-Gemälde.
Nur ein einziger Raum in Belije Notschi gehörte wirklich ihrem Vater, und dies war sein Arbeitszimmer.
Meredith stand auf der Türschwelle. Sie musste nicht erst die Augen schließen, um sich vorzustellen, wie ihr Vater am Schreibtisch saß und mit den beiden kleinen Mädchen zu seinen Füßen sprach und lachte.
Sie hörte förmlich das Echo seiner Stimme, roch fast den süßen Duft seiner Pfeife.
Sagt es nicht eurer Mutter, sie mag es nicht, wenn ich rauche.
Meredith ging in die Mitte des Zimmers und kniete sich auf den dicken tannengrünen Teppich. Zwei große Sessel mit dunklem Karomuster standen einander zugewandt vor dem riesigen Mahagoni-Schreibtisch, der den Raum dominierte. Die leuchtend kobaltblauen Wände mit der schwarzen Zierleiste waren mit unzähligen Familienfotos in grünen Lederrahmen bedeckt.
Überwältigt von der Aussicht auf die vor ihr liegende Aufgabe hockte Meredith sich kurz auf die Fersen. Nur Kleider ihres Vaters durchzusehen, würde noch schwieriger werden.
Aber es musste getan werden, und sie war diejenige, die es tun würde. In den kommenden Monaten und Jahren würden sie und ihre Mutter Dokumente aus diesem Zimmer brauchen. Versicherungsunterlagen, Rechnungsbelege, Steuerunterlagen und Kontoauszüge.
Also holte Meredith tief Luft und zog die Schublade mit dem Hängeregister heraus. Während es draußen dunkel wurde, folgte sie gewissenhaft der Spur aus Dokumenten, die ihre Eltern hinterlassen hatten, und sortierte alles in drei Stapel: behalten, prüfen und entsorgen.
Sie war dankbar, dass ihre ganze Aufmerksamkeit gefordert war. Nur selten ertappte sie sich dabei, dass ihre Gedanken abschweiften und sich im Dickicht ihrer gescheiterten Ehe verloren.
So wie jetzt, als sie auf ein Foto starrte, das unerklärlicherweise in den Vermögenssteuerordner geraten war. Auf dem Foto sah man, wie Dad, Nina, Jeff, Jillian und Maddy im Vorgarten Fangen spielten. Die Mädchen waren noch klein – kaum größer als der Briefkasten – und trugen identische rosafarbene Schneeanzüge. Die Zäune waren mit Lichterketten und immergrünen Zweigen geschmückt. Alle auf dem Foto lachten.
Aber wo war sie? Wahrscheinlich im
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