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Ein Garten im Winter

Ein Garten im Winter

Titel: Ein Garten im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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Schwester, die nur noch ein Schatten ihrer selbst ist, und für ihre Mutter, die kaum noch spricht. Nur nachts hört man sie ständig weinen. Monatelang hat Vera sie zu trösten versucht. Vergeblich. Niemand kann ihre Mutter mehr trösten. Sie ist untröstlich.
    Also konzentrieren sie sich darauf, zu überleben. Vera arbeitet endlose Stunden in der Schlossbibliothek. In Räumen, die nach Staub, Leder und Stein riechen, gibt sie den letzten Traum ihres Vaters für sie auf – dass sie Schriftstellerin wird –, sie gibt ihn ab wie ein überfälliges Buch und freut sich nur noch an den Worten anderer. Wann immer sie Zeit hat, stiehlt sie sich in eine Ecke und liest Geschichten und Gedichte, doch immer nur kurz, denn sie vergisst nie, dass sie ständig beobachtet wird. In letzter Zeit werden sogar Kinder verhaftet, um die Eltern zu Geständnissen zu bewegen. Vera hat Angst, dass die schwarze Kutsche mit den drei Trollen eines Tages wieder vor ihrer Tür erscheint und diesmal sie abholt. Oder schlimmer noch: Olga oder Mama. Nur wenn sie ganz allein ist – nachts, im Bett, wenn Olga leise neben ihr schnarcht –, erlaubt sie sich, daran zu denken, wie sie einst werden wollte.
    Nur dann, in der dunklen Stille, wenn der kalte Winterwind durch das dünne Glas ihres geschlossenen Fensters dringt, denkt sie an Sascha und daran, wie sein Kuss sie zu Tränen rührte.
    Sie versucht, ihn zu vergessen, doch es gelingt ihr nicht, selbst als Monate ohne ein Wort von ihm vergehen.
    »Vera?«, flüstert ihre Schwester in der Dunkelheit.
    »Ich bin wach«, antwortet sie.
    Sofort schmiegt sich Olga an sie. »Mir ist kalt.«
    Vera nimmt ihre kleine Schwester in die Arme und zieht sie fest an sich. Sie weiß, dass sie sie trösten sollte. Es ist ihre Aufgabe als ältere Schwester, Olga aufzumuntern, und sie nimmt diese Aufgabe ernst. Aber sie ist so müde und ihr ist nichts mehr geblieben, was sie geben könnte.
    Schließlich verlässt Vera das Bett und zieht sich rasch an. Sie bedeckt ihr langes Haar mit einem Kopftuch und geht in die ausgekühlte Küche, wo ein Topf wässriger Kascha auf dem Herd wartet.
    Mama ist bereits gegangen, noch früher als sonst. Jeden Morgen macht sie sich noch weit vor Tagesanbruch auf zu ihrer Arbeit im königlichen Lebensmittellager und wenn sie abends endlich nach Hause kommt, ist sie so müde, dass sie ihren Töchtern nur noch einen Gutenachtkuss gibt und ins Bett geht.
    Vera wärmt die Kascha für ihre Schwester auf, süßt sie mit einem dicken Klumpen Honig und bringt sie zu ihr. Dann sitzen sie gemeinsam auf dem Bett und frühstücken schweigend.
    »Heute wieder?«, fragt Olga schließlich und kratzt sorgsam den letzten Rest Buchweizengrütze zusammen.
    »Ja«, sagt Vera mit Nachdruck. Seit ihr Vater abgeholt wurde, wiederholt sich dieser Wortwechsel jeden Freitag. Mehr muss nicht gesagt werden; Olga weiß das. Hoffnung ist etwas Zerbrechliches, leicht zu zerstören, wenn sie zu stark strapaziert wird. Also ziehen sie sich ohne ein weiteres Wort an, machen sich fertig für die Arbeit und verlassen gemeinsam das Haus.
    Draußen herrscht grimmige Kälte.
    Vera schlägt ihren Kragen hoch und kämpft sich forsch durch den Wind. Schneeflocken brennen auf ihren Wangen. Auf dem zugefrorenen Fluss sieht sie Eisfischer an Löchern hocken. An der Ecke gehen Olga und sie getrennte Wege.
    Kurz darauf hört Vera in der Ferne das Brüllen eines Drachens und sieht in die Straße eine Kutsche biegen, deren Schwarz sich scharf gegen den Schnee und den weißen Stein der Stadtmauer abhebt. Sie versteckt sich im Schatten einer Schneewehe unter einem Kristallbaum.
    Jemand wird abgeholt; eine Familie wird auseinandergerissen, aber Vera kann nur denken: Gott sei Dank, diesmal trifft es nicht uns. Sie wartet, bis die Kutsche verschwunden ist, dann setzt sie sich wieder in Bewegung. Sie nimmt eine Bahn und fährt mit ihr durch das Schneegestöber quer durch die Stadt zu einem Ort, der ihr mittlerweile allzu vertraut ist.
    Am Eingang der Großen Halle der Gerechtigkeit zögert sie kurz, um sich zu wappnen, dann zieht sie die riesige Steintür auf und tritt ein. Ihr Blick fällt sofort auf die vielen Frauen mit Wollkleidern und Filzstiefeln, die ihre behandschuhten Hände aneinanderreiben, um sich warm zu halten. Sie bewegen sich vorwärts, immer nur vorwärts; Menschen in einer Schlange, die warten, bis sie an der Reihe sind.
    Die folgenden zwei Stunden vergehen in grauer Monotonie, bis Vera endlich den Kopf der Schlange

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