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Ein Garten im Winter

Ein Garten im Winter

Titel: Ein Garten im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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erreicht hat. Sie nimmt ihren ganzen Mut zusammen, richtet sich auf und schreitet dann zu dem schimmernden Marmortisch, wo ein Kobold auf einem hohen Stuhl sitzt. Sein Gesicht ist so bleich und formlos wie schmelzendes Wachs, und seine lidlosen, golden glühenden Augen öffnen und schließen sich wie bei einer Schlange.
    »Name«, sagt er.
    Sie antwortet so ruhig sie kann.
    »Ehemann?«, fragt der Kobold, und seine Stimme klingt wie ein Zischen in der Stille.
    »Vater.«
    »Die Papiere.«
    Sie schiebt die Papiere über den kalten Tisch und sieht zu, wie seine schmale, haarige Hand sie bedecken. Sie muss allen Mut zusammennehmen, um ruhig stehen zu bleiben, während er ihre Papiere studiert. Was, wenn ihr eigener Name auf einer Liste gelandet ist? Oder wenn man sie schon erwartet hat? Es ist gefährlich, immer wieder zu kommen, zumindest behauptet ihre Mutter das. Aber Vera kann nicht aufgeben. Ihre einzige Hoffnung ist daran geknüpft, immer wieder zu kommen.
    Er gibt ihr die Papiere zurück. »Der Fall wird untersucht«, sagt er und ruft dann: »Der Nächste.«
    Rasch entfernt sie sich vom Schalter und hört noch, wie eine alte Frau herantritt und nach ihrem Mann fragt.
    Sie hat gute Neuigkeiten gehört. Ihr Vater lebt noch. Er wurde nicht verurteilt und ins Ödland geschickt … oder Schlimmeres. Bald wird der Schwarze Ritter seinen Irrtum erkennen. Er wird einsehen, dass ihr Vater kein Verräter ist.
    Wieder schlägt sie ihren Kragen hoch und geht zurück in die Kälte. Wenn sie sich beeilt, kann sie gegen Mittag bei der Arbeit sein.
    Jeden Freitag spricht Vera bei dem Kobold vor. Jedes Mal lautet seine Antwort gleich: »Der Fall wird untersucht. Der Nächste.«
    Doch auf einmal erklärt ihre Mutter, sie müssten umziehen.
    »Uns bleibt nichts anderes übrig, Vera«, sagt sie. Sie sitzt zusammengesunken am Küchentisch. Das letzte Jahr hat seinen Tribut von ihr gefordert und Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Sie raucht eine billige Zigarette und scheint es kaum zu bemerken, dass Asche auf den Holzboden fällt. »Mein Lohn im Lager ist gekürzt worden. Wir können die Miete nicht mehr bezahlen.«
    Vera würde jetzt gern wie früher mit ihrer Mutter streiten, doch sie weiß, es ist schon nicht mehr genug Geld für Holz da, um nachts zu heizen, so dass sie ständig frieren.
    »Wohin ziehen wir denn?«, fragt Vera. Sie hört Olga weinen.
    »Meine Mutter hat uns angeboten, zu ihr zu ziehen.«
    Das überrascht Vera. Selbst Olga blickt auf.
    »Wir kennen sie doch gar nicht«, meint Vera.
    Ihre Mutter nimmt einen weiteren tiefen Zug von ihrer Zigarette und stößt einen dünnen blauen Rauchfaden aus. »Meine Eltern waren mit eurem Vater nicht einverstanden. Aber da er jetzt weg ist …«
    »Er ist nicht weg«, widerspricht Vera und beschließt, ihre Großmutter auf keinen Fall zu mögen, geschweige denn zu lieben.
    Ihre Mutter sagt nichts darauf, aber der Blick in ihren dunklen Augen ist deutlich genug: Er ist doch weg.
    Olga fasst Vera am Arm, vielleicht, um sie zu trösten, vielleicht, um sie zu unterstützen, und fragt: »Wann ziehen wir denn um?«
    »Heute Abend noch. Bevor der Hausbesitzer die Miete holen kommt.«
    Früher hätte Vera widersprochen oder sich zu weigern versucht. Jetzt seufzt sie nur leise und geht in ihr Zimmer. Viel zu packen ist ihnen nicht geblieben. Ein paar Kleider und Decken, eine Haarbürste und ihre alten Filzstiefel, die ihr schon fast zu klein sind.
    Kurz darauf sind sie draußen, angetan mit all ihren Kleidern, und stapfen durch den Schnee zu ihrem neuen Zuhause.
    Endlich erreichen sie es. Das Haus ist klein und wirkt schäbig. Die Steinfassade über dem Türsturz bröckelt bereits. An einigen Fenstern hängen schief billige Stoffgardinen.
    Sie gehen die Treppe hinauf bis zur letzten Wohnung im zweiten Stock.
    Ihnen öffnet eine dicke, traurig wirkende Frau in einem Morgenmantel mit Blumenmuster, der schon bessere Tage gesehen hat. Ihr graues Haar ist von einem ausgeblichenen grünen Kopftuch bedeckt. Sie raucht und ihre Finger sind nikotingelb.
    »Soja«, begrüßt sie sie. »Und das sind wohl meine Enkelinnen Veronika und Olga. Welche ist welche?«
    »Ich bin Vera«, sagt Vera und richtet sich unter dem prüfenden Blick ihrer Großmutter auf.
    Die Frau nickt. »Ihr macht aber keine Probleme, klar? Wir können Ärger, wie ihr ihn hattet, nicht gebrauchen.«
    »Es wird keinen Ärger geben«, verspricht Mama leise. Daraufhin werden sie eingelassen.
    Vera bleibt abrupt stehen. Olga

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