Ein Garten im Winter
wird, und dreht sich langsam um.
Er sieht noch genauso aus, wie sie ihn in Erinnerung hat: Seine goldenen Haare sind zu lang und wild gelockt. Er hat sich frisch rasiert, und ein winziger roter Schnitt am Hals verrät, dass er dabei zu hastig war. Aber es sind seine grünen Augen, die sie erneut in seinen Bann ziehen.
»Ihre Hoheit«, sagt sie und versucht, ganz ruhig zu klingen. »Ich freue mich, Sie wiederzusehen. Wie lange ist das jetzt her?«
»Lass das.«
»Was denn?«
»Du weißt genau, was auf der Fontanka-Brücke passiert ist.«
Ihr Lächeln verblasst, sie ringt um Fassung. Sie will nicht naiv und dumm erscheinen. Nicht noch einmal. »Das war nur eine Nacht vor Ewigkeiten.«
»Aber keine gewöhnliche Nacht, Vera.«
»Bitte, treiben Sie nicht Ihr Spiel mit mir, Hoheit.« Zu ihrem Entsetzen gehorcht ihr ihre Stimme nicht mehr. »Sie sind nie wiedergekommen.«
»Du warst fünfzehn. Und ich achtzehn.«
»Ja«, bestätigt sie und runzelt die Stirn, weil sie immer noch nicht begreift, was er sagen will.
»Ich habe auf dich gewartet.«
Zum ersten Mal in ihrem Leben meldet Vera sich unbegründet krank. Sie geht zum Bibliothekar, klagt über stechende Magenschmerzen und bittet, früher nach Hause gehen zu dürfen.
Das ist schlimm und gefährlich. Wenn Mama es wüsste, würde Vera Ärger bekommen, und zwar sowohl für die Lüge als auch für die Konsequenzen der Lüge. Was, wenn Vera draußen gesehen wird, wo sie doch angeblich krank zu Hause ist?
Aber wenn ein Mädchen in ihrem Alter verliebt ist, zählen Befürchtungen nicht.
Allerdings ist sie klug genug, direkt nach Hause zu gehen, als man sie ziehen lässt. In der Bahn steht sie dicht neben der Messingstange und hält sich fest, wenn der Waggon schwankt und ruckt. Zu Hause angekommen, öffnet sie langsam die Wohnungstür und späht hinein.
Ihre Großmutter steht vor dem Herd und rührt in einem großen schwarzen Kessel. »Du kommst aber früh nach Hause«, sagt sie und streicht sich mit dem Handrücken das feuchte graue Haar aus den Augen.
Der süße Duft eingekochter Erdbeeren durchdringt die Wohnung. Auf dem Tisch stehen dicht gedrängt mindestens ein Dutzend Gläser, und direkt daneben liegen die Metalldeckel.
»In der Bibliothek war nicht viel zu tun«, erklärt Vera und spürt, wie sie rot wird.
»Dann kannst du ja –«
»Ich gehe zum Feld«, sagt Vera. Und als ihre Großmutter sie scharf ansieht, fügt sie hinzu: »Ich wollte Gurken und Kohl holen.«
»Ach, sehr schön.«
Vera zögert einen Moment und betrachtet das strenge Profil ihrer Großmutter. Ihr formloses Kleid ist am Saum ausgerissen, und ihre Strümpfe haben Löcher und Laufmaschen.
»Sag Mama, dass ich spät zurückkomme. Ganz sicher erst nach dem Abendessen.«
»Sei vorsichtig«, erwidert ihre Großmutter. »Du bist jung … und seine Tochter. Lenk keine Aufmerksamkeit auf dich.«
Vera nickt, um zu verbergen, dass sie schon wieder rot wird. Sie geht zu der Ecke, wo ihr altes rostiges Fahrrad an der Wand lehnt, trägt das Rad zur Tür und verlässt die Wohnung.
Noch nie ist sie so schnell mit ihrem klapprigen Fahrrad über die Straßen ihres geliebten Schneereichs gefahren. Tränen trüben ihr den Blick und werden von ihren wehenden Haaren weggewischt. Wenn jemand vor ihr die Straße überquert, klingelt sie laut und fährt um ihn herum. Den ganzen Weg durch die Stadt, den Fluss entlang und über die Brücke spürt sie das Hämmern ihres Herzens, hört sie in ihrem Kopf immer wieder seinen Namen.
Sascha. Sascha. Sascha.
Er hat auf sie gewartet, genau wie sie auf ihn gewartet hat. Ein Glück, so unwahrscheinlich wie ein Klümpchen Gold auf ihrem steinigen Lebensweg. Am verschnörkelten schmiedeeisernen Tor des Sommergartens bremst sie und steigt vom Rad.
Sie staunt, wie schön der Schlossgrund ist. Da der Park von drei Seiten von Wasser umgeben ist, wirkt er wie ein wundervoller grüner Hafen innerhalb der Einfriedungen. Die Luft riecht nach Linden und heißem Stein. Prächtige Marmorstatuen säumen die gepflegten Wege.
Ganz wie geplant, rollt sie ihr Rad über einen Weg und versucht, so gelassen zu wirken, als wäre dies ein ganz normaler Abendspaziergang an einem Ort, wo einfache Leute eigentlich nie gesehen werden. Doch am liebsten würde sie rennen, denn sie fühlt sich wie unter Strom.
Und dann sieht sie ihn. Er steht neben einer Linde und lächelt ihr entgegen.
Sie stolpert und fällt gegen ihr Rad. Sofort ist er bei ihr und stützt sie.
»Hier entlang«,
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