Ein Garten im Winter
schließlich und stieß ihr Glas gegen die anderen, bevor sie es in einem Zug leerte. »Eurem Vater gefiel es, wenn ich etwas trank.«
»Es ist ein guter Anlass dafür«, erwiderte Meredith. Sie trank ihren Wodka und hielt ihrer Mutter das leere Glas zum Nachschenken hin. Der zweite Wodka lief ihr brennend durch die Kehle. »Ich vermisse es, ihn zu hören, wenn ich ins Haus komme«, sagte sie dann.
Ihre Mom schenkte sich ebenfalls nach. »Ich vermisse seinen Gutenmorgenkuss.«
»Ich hab mich daran gewöhnt, ihn zu vermissen«, erklärte Nina leise. »Schenk mir nach.«
Als Meredith ihren dritten Wodka getrunken hatte, kribbelten ihre Gliedmaßen.
»Er würde nicht wollen, dass wir so über ihn sprechen«, sagte die Mutter. »Er würde wollen …«
Sie verstummte. In der einsetzenden Stille blickten sie einander an. Meredith wusste, dass sie alle dasselbe dachten: Wie lebte man weiter?
Einfach machen , dachte Meredith, daher sagte sie: »Mein Lieblingsfeiertag ist Thanksgiving. Mir gefällt alles daran: die Dekoration, das Essen, dass wir die erste Weihnachtsmusik hören und wie meine Kinder sich darauf freuen. Außerdem verrate ich euch jetzt, dass ich unsere Familienausflüge immer gehasst habe. Der schlimmste von allen war in Ost-Oregon. Erinnert ihr euch noch, als wir in Tipis übernachtet haben? Es war 38 °C, und Nina sang die ganzen vierhundert Meilen ›I Think I Love You‹.«
Nina lachte. »Ich hab diese Campingtrips geliebt, weil wir nie wussten, wo wir landen würden. Weihnachten ist mein Lieblingsfeiertag, weil ich mir das Datum merken kann. Und am meisten vermisse ich an Dad, dass er immer auf mich gewartet hat.«
Meredith war völlig neu, dass Nina sich manchmal einsam fühlte; dass ihr bei aller Globetrotterei der Gedanke gefiel, dass jemand auf sie wartete.
»Ich habe die Abenteuerlust eures Vaters geliebt«, erklärte ihre Mom. »Obwohl diese Campingtrips die Hölle waren. Nina, du solltest niemals vor anderen Menschen singen, die keinerlei Fluchtmöglichkeit haben.«
»Ha!«, sagte Meredith. »Also hab ich mich doch nicht angestellt! Wenn du gesungen hast, musste ich immer an den Bohrer beim Zahnarzt denken.«
»Ach ja? Aber David Cassidy hat mir einen Brief geschrieben.«
»Seine Unterschrift war gestempelt«, entgegnete Meredith und freute sich über den Seitenhieb.
Die Mutter seufzte, als hätte sie ihnen nur mit einem Ohr zugehört. »Er hat mir immer versprochen, mit mir nach Alaska zu fahren. Habt ihr das gewusst? Ich wollte noch mal die Belije Notschi und das Nordlicht sehen. Das fällt mir immer als Erstes ein, wenn ich an Evan denke: Er hat mich gerettet.«
Sie blickte abrupt auf, als sei ihr plötzlich klargeworden, dass sie etwas von sich preisgegeben hatte. Sofort darauf schob sie ihren Stuhl zurück und stand auf.
»Ich wollte auch schon immer mal nach Alaska«, sagte Meredith in dem Versuch, ihre Mutter zum Bleiben zu bewegen.
»Ich gehe in mein Zimmer«, verkündete sie.
Meredith eilte zu ihr und fasste sie am Arm. »Hier, Mom –«
»Ich bin doch keine Invalidin«, wehrte sie Meredith ab.
Meredith erstarrte und sah zu, wie ihre Mutter aus der Küche verschwand. »Man wird einfach nicht schlau aus ihr.«
»Da sprichst du ein wahres Wort gelassen aus, Schwester.«
An diesem Abend sprachen Meredith und Nina noch lange über ihren Vater und schwelgten in Kindheitserinnerungen. Beide versuchten auf ihre Weise, den Tag zu würdigen, seinen Geburtstag wirklich zu feiern, und als Meredith danach allein in ihrem verwaisten Bett lag, begründete sie eine neue Lebensgewohnheit: in stillen Stunden mit ihrem Vater zu sprechen. Vielleicht konnte sie keinen Rat von ihm bekommen, aber irgendwie half es schon, nur ihre Gedanken zu formulieren. Sie erzählte ihm von Jeff, von ihrer Verwirrung und ihrer Unfähigkeit, das zu sagen, was ihr Mann hören wollte. Sie wusste, was ihr Dad sie gefragt hätte. Auch Nina hatte ihr diese Frage schon gestellt.
Was willst du?
Darüber hatte sie seit Jahren nicht ernsthaft nachgedacht. Die letzten zehn Jahre hatte sie sich nur damit beschäftigt, was es zum Abendessen geben sollte, auf welche Schule die Mädchen gehen würden und wie man die Äpfel am besten für den Export verpackte. Sie hatte über Obstproduktion und College-Aufnahmeanträge nachgedacht, über Hausreparaturen und Rücklagen für Steuern und Studiengebühren.
Die Einzelteile hatten das Ganze verschlungen.
Den gesamten nächsten Tag versuchte sie sich auf ihre Arbeit zu
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