Ein Garten im Winter
sagt er und führt sie zu einem Platz zwischen den Bäumen, wo schon eine Decke und ein Korb auf sie warten.
Zuerst sitzen sie im Schneidersitz auf der warmen Wolldecke, und ihre Schultern berühren sich sacht. Durch ihre grüne Laube sieht Vera, wie Sonnenlicht das Wasser sprenkelt und eine Marmorstatue vergoldet. Sie weiß, dass der Weg schon bald von Edelleuten und Liebespaaren wimmeln wird, die im sanften Licht des Juniabends spazieren gehen wollen.
»Was hast du gemacht seit … ich dich das letzte Mal sah?«, fragt sie und wagt es nicht, ihn anzublicken. Er ist schon so lange in ihrem Herzen, dass es sich anfühlt, als würde sie ihn gut kennen. Aber das stimmt nicht. Sie weiß nicht, was sie sagen, wie sie sich verhalten soll. Auf einmal hat sie Angst, etwas Falsches zu machen oder zu sagen und damit alles rettungslos zu ruinieren.
»Ich bin in der Geistlichen Akademie und studiere, um Dichter zu werden.«
»Aber du bist doch ein Prinz. Und Dichten ist verboten.«
»Keine Angst, Vera. Ich bin nicht wie dein Vater. Ich bin vorsichtig.«
»Genau das hat er auch zu meiner Mutter gesagt.«
»Sieh mich an«, bittet Sascha sie leise. Da wendet Vera sich zu ihm.
Ihr Kuss, der jetzt beginnt, wird niemals enden. Sie werden ihn unterbrechen, das wohl. Sie werden sich voneinander lösen. Aber von diesem Augenblick an sieht Vera ihr ganzes Leben so, als wäre sie nur einen Atemzug davon entfernt, Sascha wieder zu küssen. An diesem Abend im Park beginnen sie ihr heikles Unterfangen, ihre Seelen aneinanderzubinden, ein Ganzes aus ihren getrennten Hälften zu bilden.
Vera erzählt ihm alles über sich und hört sich hingebungsvoll seine eigene Lebensgeschichte an – wie er in der Wildnis des Nordens geboren und dann in einem Waisenhaus abgegeben wurde, bevor seine königlichen Eltern ihn schließlich fanden. Als er ihr von Einsamkeit und Verlust erzählt, drückt sie ihn noch fester an sich, küsst ihn noch inniger und verspricht, ihn für immer zu lieben.
Bei diesen Worten dreht er sich noch weiter zu ihr, bis er ausgestreckt neben ihr liegt und ihre Gesichter sich fast berühren. »Ich werde dich ebenso lange lieben, Vera«, sagt er.
Dann gibt es nichts mehr zu sagen.
Hand in Hand wandeln sie durch die leuchtende Morgenröte. Die Alabasterstatuen schimmern rosa in diesem Licht. Zurück in der Stadt, treffen sie auf andere Menschen, Fremde, die sich wie Freunde fühlen in dieser Weißen Nacht, als der Wind vom Fluss herweht und die Blätter der Bäume rascheln lässt. Am Himmel vollführt das Nordlicht seinen Schleiertanz.
Am Ende der Brücke bleiben sie unter einer Straßenlaterne stehen und sehen sich an.
»Komm morgen Abend zum Essen zu uns«, sagt sie. »Ich möchte dich meiner Familie vorstellen.«
»Und wenn sie mich nicht mögen?«
Nichts in seiner Stimme oder seiner Haltung verrät etwas von seinen Gefühlen, aber Vera sieht sein Herz so deutlich, als schlüge es in ihrer weißen Handfläche. Sie hört den Schmerz eines im Stich gelassenen Kindes, das viel zu spät darüber klagt. »Sie werden dich lieben, Sascha«, verspricht sie und fühlt sich plötzlich viel älter als er. »Vertrau mir.«
»Schenke uns noch einen Tag«, sagt er. »Erzähl niemandem von uns. Bitte.«
»Aber ich liebe dich.«
»Einen Tag noch«, wiederholt er.
Sie willigt ein, ist es doch ein kleines, wenn auch albernes Anliegen. Doch auch sie freut sich auf eine weitere magische Nacht, in der es nur sie zwei geben wird. Ein einziges Mal kann sie sicher noch Krankheit vorschützen.
»Wir treffen uns morgen um ein Uhr. Aber komm nicht in die Bibliothek. Ich brauche die Stelle.«
»Ich warte auf der Brücke über dem Burggraben. Ich möchte dir etwas Besonderes zeigen.«
Endlich löst sich Vera von ihm und schiebt ihr klappriges Rad über die Straße. So leise wie möglich trägt sie es die Treppe zu ihrer Wohnung im zweiten Stock hinauf und öffnet die Tür. Doch die alten Scharniere quietschen und das Rad klappert.
Sofort dringt ihr Zigarettenrauch in die Nase. Dann sieht sie ihre Mutter. Sie sitzt am Tisch und raucht. Neben ihr steht ein voller Aschenbecher.
»Mama!«, ruft Vera. Das Rad fällt scheppernd gegen die Wand.
»Still«, befiehlt ihre Mutter und blickt hinüber zum Bett, obwohl Großmutter in dieser Nacht nicht da ist.
Vera stellt das Rad weg und geht zum Tisch. Es brennt keine Lampe, doch durch das Zwielicht, das durchs Fenster dringt, wirkt alles im Zimmer sanfter, besonders das Gesicht ihrer Mutter,
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