Ein Garten im Winter
das vor Zorn verkrampft ist. »Wo ist denn das Gemüse vom Feld?«
»Ach. Ich bin mit dem Rad gegen eine Bank gefahren und hingefallen. Dabei habe ich alles verloren.« Kaum ist ihr das herausgerutscht, klammert sie sich daran. »Das hat vielleicht weh getan. Die Schmerzen an meiner Hüfte bringen mich um. Deshalb komme ich auch so spät. Ich musste den ganzen Weg zurück laufen.«
Ihre Mutter sieht sie an, ohne die Miene zu verziehen. »Mit siebzehn ist man noch sehr jung, Vera. Man ist noch nicht bereit für das Leben … oder die Liebe … auch wenn du das meinst, Vera. Und wir leben in gefährlichen Zeiten.«
»Du warst auch siebzehn, als du dich in Papa verliebt hast.«
»Ja«, seufzt ihre Mutter. Sie klingt geschlagen, als wüsste sie bereits alles.
»Und du würdest es doch wieder tun, oder? Papa lieben, meine ich.«
Ihre Mutter zuckt bei dem Wort zusammen. Lieben.
»Nein«, sagt sie sanft. »Ich würde nicht noch mal einen Dichter lieben, dem seine kostbaren Worte wichtiger sind als die Sicherheit seiner Familie. Nicht wenn ich wüsste, wie es sich anfühlt, mit einem gebrochenen Herzen zu leben.« Sie drückt ihre Zigarette aus. »Meine Antwort ist Nein.«
»Aber –«
»Mir ist klar, dass du das nicht verstehst«, erwidert ihre Mutter und wendet sich ab. »Ich hoffe auch, du wirst es niemals verstehen. Und jetzt komm ins Bett, Vera. Erlaube mir, so zu tun, als wärst du noch mein unschuldiges kleines Mädchen.«
»Aber das bin ich«, protestiert Vera.
Ihre Mutter wirft ihr einen letzten Blick zu. »Nicht mehr lange, fürchte ich. Denn du willst verliebt sein.«
»Du sagst das so, als könnte man entscheiden, ob man sich verliebt.«
Darauf antwortet ihre Mutter nicht, sondern klettert nur in das schmale Bett zu Olga, die leise schnaufend einen Arm um sie legt.
Vera möchte noch mehr fragen, sie möchte erzählen, wie sie sich fühlt, doch sie merkt, dass ihre Mutter nichts hören will. Hat Sascha sie deshalb um einen weiteren Tag gebeten? Wusste er, dass ihre Mama etwas dagegen hätte?
Vera putzt sich die Zähne, zieht ihr Nachthemd an und flicht ihr langes Haar zu einem Zopf. Dann klettert sie ebenfalls ins Bett, schmiegt sich an ihre Mutter und sucht in ihren Armen nach Wärme.
»Sei vorsichtig«, flüstert sie Vera ins Ohr. »Und lüg mich nie wieder an.«
Fünfzehn
Als Vera ein paar Stunden später aufwacht, ist es noch so früh, dass sie sich im Spülbecken das Haar waschen und so lange bürsten kann, bis es trocken ist.
»Wo willst du hin?«, fragt Olga schläfrig vom Bett aus.
»Pst«, flüstert Vera und legt den Zeigefinger auf die Lippen.
Da richtet sich die Mutter im Bett auf und stützt sich auf ihren Ellbogen. »Du musst deine Schwester nicht anweisen, leise zu sein, Veronika. Ich rieche das Rosenwasser für dein Haar.«
Vera will schon wieder lügen und behaupten, dass an diesem Tag etwas Wichtiges in der Bibliothek stattfindet, doch am Ende schweigt sie einfach.
Ihre Mutter wirft die dünne Decke zurück. Wie Synchronschwimmerinnen erheben sie und Olga sich gemeinsam und stehen dann in ihren zerschlissenen weißen Nachthemden da.
»Bring deinen jungen Mann am Sonntag mit«, befiehlt ihre Mama. »Dann ist deine Großmutter nicht da.«
Vera umarmt sie heftig. Dann frühstücken sie zusammen und brechen gemeinsam auf, wie sie es schon seit über einem Jahr tun.
Als die Mutter sich von ihnen verabschiedet und zum Lebensmittellager geht, sagt Olga zu Vera: »Jetzt erzähl!«
Vera hakt sich bei ihrer Schwester unter. »Es ist Prinz Alexander. Sascha. Er hat gewartet, bis ich erwachsen bin, und jetzt liebt er mich.«
»Der Prinz«, sagt Olga ehrfürchtig.
»Ich treffe mich heute Abend wieder mit ihm. Du musst Mama erzählen, dass alles in Ordnung ist und ich nach Hause komme, sobald ich kann. Ich möchte nicht, dass sie sich Sorgen macht.«
»Sie wird aber wütend werden.«
»Ich weiß«, erwidert Vera. »Aber was soll ich machen? Ich liebe ihn, Olga.«
An der Ecke bleibt Olga stehen. »Aber du kommst doch nach Hause, oder?«
»Ja, versprochen.«
»Ist gut.« Olga küsst sie auf beide Wangen und macht sich dann auf den Weg zu ihrer Arbeit im Museum.
An der nächsten Ecke erwischt Vera eine Bahn und fährt mehrere Häuserblöcke weit. Als sie die Bibliothek betritt, überlegt sie gerade, wie sie sich früher von der Arbeit wegstehlen kann.
Da sieht sie in der prächtigen Eingangshalle die Bibliothekarin Plotkina stehen. Sie hat die Arme verschränkt und tappt
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