Ein Garten im Winter
ungeduldig mit einem Fuß auf den Marmorboden.
Vera bleibt vor ihr stehen. »Tut mir leid, dass ich zu spät komme.«
Die Bibliothekarin wirft einen Blick zur Wanduhr. »Sieben Minuten, um genau zu sein.«
»Ja.« Vera setzt eine zerknirschte Miene auf.
»Man hat Sie gestern im Park gesehen.«
»Das kann nicht sein. Bitte –«
»Liegt Ihnen an dieser Stelle?«
»Ja, sehr. Ich brauche sie. Für meine Familie.«
»Wenn ich die Tochter eines Hochverräters wäre, würde ich vorsichtiger sein.«
»Ja, natürlich.«
Die Bibliothekarin reibt ihre Hände aneinander, als wären sie während des Gesprächs schmutzig geworden, und jetzt wollte sie sie säubern. »Gut. Jetzt gehen Sie ins Magazin und packen dort die Kisten aus.«
»Ja.«
»Ich gehe davon aus, dass Sie sich nie wieder krankmelden.«
Als Vera den ganzen Tag in das dunkle, staubige Magazin verbannt wird, fühlt sie sich wie ein Vogel, der in seinem Drang zu entkommen immer wieder gegen ein Fenster prallt. Sie stellt sich vor, wie Sascha auf der Brücke wartet: erst freudig und aufgeregt, dann verärgert.
Sie will unbedingt der niederdrückenden Stille entkommen, doch offenbar überwiegt die Angst ihre Liebe, und das beschämt sie noch mehr. Sie ist die Tochter eines Hochverräters und darf keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ihre Familie schlägt sich ohnehin mehr schlecht als recht durch. Der Verlust ihrer Arbeit würde den sicheren Ruin bedeuten. Daher bleibt sie, ist aber so geistesabwesend und ungeschickt, dass ihre Mitarbeiter sie mehrfach anzischen, sie solle besser aufpassen.
Immer wieder starrt sie auf die Uhr, so als wollte sie die schwarzen Zeiger zwingen, sich schneller zu bewegen … vorzurücken. Als der ersehnte Zeitpunkt endlich gekommen und ihre Schicht zu Ende ist, lässt sie alles stehen und stürzt aus der Tür in das lichte Treppenhaus. Sie eilt die breite Marmortreppe hinunter. In der Eingangshalle zwingt sie sich, langsamer und so unauffällig wie möglich über den Marmorboden zu huschen.
Erst draußen rennt sie los: die Treppe hinunter, über die Straße zur Haltestelle. Als vor ihr bimmelnd eine Bahn hält, drängt sie sich in die Menge; es sind so viele Fahrgäste, dass sie sich nirgendwo festhalten muss.
An ihrer Haltstelle springt sie heraus und rennt zur Ecke.
Die Straße ist leer.
Dann sieht sie die schwarzen Kutschen. Zwei von ihnen stehen vor der Brücke des Burggrabens.
Vera erstarrt. Es ist, als könnten sich ihre Beine nicht mehr rühren, und sie muss all ihren Mut zusammennehmen, um nur zu atmen. Sie wissen es. Sie wissen, dass sie ein armes Bauernmädchen ist, das sich heimlich mit einem Angehörigen der Königsfamilie trifft. Und jetzt kommen sie sie holen. Oder sie holen ihn. Nicht mal ein Prinz ist sicher vor den Schergen des Schwarzen Ritters.
»Du solltest nicht hier sein.«
Wie aus der Ferne hört sie diese Worte. Dann fasst jemand ihren Arm und zwingt sie, sich umzudrehen.
Vor ihr steht ein Mann. »Sie haben ihn abgeholt. Du solltest nicht hier sein.«
»Aber –«
»Kein Aber. Was auch immer er dir bedeutet hat, du solltest ihn vergessen und nach Hause gehen.«
»Aber ich liebe ihn.«
Mitfühlend verzieht der Mann sein Gesicht. »Vergiss deinen jungen Mann. Und jetzt geh.«
Er schubst sie so energisch, dass sie zur Seite taumelt. Früher wäre ein solcher Stoß vielleicht als Grobheit betrachtet worden, aber heutzutage ist es ein Akt der Freundlichkeit, eine Ermahnung, dass man nicht stehen bleiben und weinen darf. »Danke, mein Herr«, sagt sie leise und entfernt sich von ihm.
Tränen steigen ihr in die Augen. Widerwillig wischt sie sie weg. Ihre Augen brennen, als sie aufblickt und verschwommen einen jungen Mann unter einer Straßenlaterne sieht.
Mit dem Lockenschopf, dem markanten Gesicht und dem breiten Lächeln sieht er aus der Distanz aus wie Sascha. Noch als sie den Schritt beschleunigt, sagt sie zu sich, das sei unmöglich, Sascha sei weg und es bestehe kein Grund, bei jedem gutaussehenden blonden jungen Mann sofort an Sascha zu denken. Doch schon rennt sie, und eine Sekunde später, noch bevor er ihr entgegenkommt, weiß sie bereits, dass sie sich nicht irrt. Es ist ihr Sascha, der jetzt auf sie zurennt.
»Vera«, sagt er, nimmt sie in seine Arme und küsst sie so heftig, dass sie ihn wegstoßen muss, um wieder zu Atem zu kommen.
»Hast du den ganzen Tag gewartet?«
»Was ist schon ein Tag! Was glaubst du, wie lange ich warten würde!« Er zieht sie wieder an sich.
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