Ein Garten im Winter
Gemeinsam überqueren sie die Straße. Vor ihnen steht das königliche Theater wie ein grünweißes Konfekt. Das Dach zieren eine Krone und eine Lyra. Auf dem Bürgersteig bildet sich langsam eine Schlange. Vera bemerkt, wie prächtig die Zuschauer gekleidet sind – mit Pelzen, Juwelen und weißen Handschuhen.
Sascha führt sie zu einer Hintertür. Sie folgt ihm durch einen dunklen Flur und dann eine Treppe hinauf.
Sie umgehen die Eingangshalle und schlüpfen ungesehen in eine Privatloge.
Vera blickt über den dunklen Zuschauersaal und staunt über die goldenen Dekorationen und die Kristallleuchter. Ihre eigene Loge – die offensichtlich ausgebessert wird – ist ebenfalls luxuriös, darüber täuschen auch Werkzeuge und Unordnung nicht hinweg. Vorne an der Balustrade befinden sich weiche Polsterstühle, und im Hintergrund, versteckt im Schatten, steht eine staubige Samtottomane. Als sie dorthin geht, hört sie, wie unter ihnen die Türen aufgehen und das elegante Publikum hereinströmt. Stimmengewirr dringt bis zu der hohen Decke des Saals.
Vera wendet sich zu Sascha. »Wir müssen weg. Ich gehöre nicht hierher.«
Er zieht sie in den Schatten. Blaue Samtvorhänge schmiegen sich an sie, als sie sich gegen die Wand lehnen. »Diese Loge wird heute Abend nicht benutzt. Wenn jemand kommt, sagen wir einfach, wir machen sie sauber. Besen haben wir ja.«
Das Licht geht aus, und das Publikum verstummt. Auf der Bühne teilt sich ein goldblauer Samtvorhang.
Mit einem hohen, reinen Ton beginnt die Musik, dann setzt brausend das Orchester ein. Vera hat noch nie so schöne Musik gehört, und dann gleitet die große Ballerina Galina Ulanowa wie ein Sonnenstrahl über die Bühne.
Im Schutz der Samtvorhänge beugt sich Vera so weit wie möglich vor.
Über zwei Stunden rührt sie sich nicht, während auf der täuschend echt gestalteten Bühne das Märchen von der Prinzessin gespielt wird, die ein böser Zauberer entführt. Als am Ende der Zauberer von der Liebe in die Knie gezwungen wird, weint Vera aus Schmerz über ihn, über sich, über alles …
»Das hätte meinem Vater gefallen«, sagt sie zu Sascha.
Er küsst ihr ihre Tränen fort und führt sie zur Ottomane.
Sie weiß, was jetzt kommt, sie spürt, wie die Leidenschaft zwischen ihnen entbrennt.
Sie begehrt ihn, daran besteht kein Zweifel; sie begehrt ihn, wie eine Frau einen Mann begehrt, aber viel mehr weiß sie nicht. Er legt sich auf das weiche Polster und zieht sie auf sich. Als seine Hand unter ihr Kleid gleitet, fängt sie an zu zittern. Es ist, als hätte ihr Körper ein Eigenleben.
»Bist du sicher, dass du das willst, Veruschka?«, flüstert er, und als sie den Kosenamen hört, muss sie lächeln, erinnert er sie doch daran, dass es Sascha ist, der bei ihr liegt. Sie muss sich nicht fürchten.
»Ich bin sicher.«
Als der Sonntag kommt, ist Vera ein ganz anderer Mensch geworden. Oder eher: Sie ist zur Frau geworden. Seit dem Ballett haben sie und Sascha sich jeden Tag heimlich nach der Arbeit getroffen, und Vera liebt ihn mittlerweile so sehr, dass sie weiß, es wird niemals aufhören. Er ist ihre zweite Hälfte.
»Bist du sicher, dass dies das Richtige ist, Veruschka?«, fragt er jetzt, als sie die Treppe zu ihrem Haus gehen.
Sie nimmt seine Hand, denn sie ist sich so sicher, dass es für sie beide reicht. »Ja«, antwortet sie. Doch als sie den Türknauf umfassen will, greift er nach ihrer Hand. »Heirate mich«, sagt er.
Glücklich lacht sie auf. »Ja.«
Dann küsst sie ihn und führt ihn ins Haus.
Das Treppenhaus ist dunkel und mit Kisten vollgestellt. Sie steigen die schmale Holztreppe in den zweiten Stock hinauf. Vor ihrer Wohnung küsst sie ihn noch einmal, dann öffnet sie schwungvoll die Tür.
Die kleine Wohnung ist verwohnt, aber blitzsauber. Ihre Mutter hat den ganzen Tag gekocht, und der süße, würzige Duft von Wildschweingulasch erfüllt den Raum.
»Das ist mein Prinz, Mama.«
Ihre Mutter und Olga stehen dicht beieinander am Tisch und umfassen die Stuhllehnen vor sich. Beide tragen hübsche Blusen mit Blumenmuster und schlichte Baumwollröcke. Die Mutter hat für den Anlass etwas ausgeleierte Strümpfe und hochhackige Schuhe angezogen; Olga trägt nur Kniestrümpfe.
Vera sieht sie durch Saschas Augen: ihre einst schöne, jetzt aber müde Mutter und Olga, die bald zur Frau wird. Ihre Schwester lächelt so breit, dass ihre überdimensionalen, etwas schiefen Zähne plötzlich normal groß wirken.
Ihre Mutter kommt um den
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