Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Garten im Winter

Ein Garten im Winter

Titel: Ein Garten im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
Vom Netzwerk:
angekommen, stellte Meredith einen Topf Wasser auf den Herd. »Ich begreife dich nicht. Wenn du durch ein Stück Glas blickst, das gerade mal so groß ist wie mein Daumennagel, siehst du alles.«
    »Ja, und?«
    »Aber heute Abend hast du die ganze Zeit mit Mom zusammengesessen und nicht bemerkt, wie sie vor deinen Augen abgebaut hat.«
    »Sagst du.«
    Meredith hätte fast gelacht, so kindisch fand sie diese Reaktion. »Hör mal, ich hatte einen schweren Tag und merke, dass du auf Streit aus bist. Aber den will ich unbedingt vermeiden. Deshalb fahre ich jetzt nach Hause, leg mich in mein leeres Bett und versuche zu schlafen. Wir können morgen über das Märchen reden, einverstanden?«
    »Einverstanden. Aber wir werden darüber reden.«
    »Schön.«
    Nina blieb noch lange, nachdem Meredith weg war, in der Küche und dachte über die Bemerkung ihrer Schwester nach.
    Du hast nicht bemerkt, dass sie vor deinen Augen abgebaut hat.
    Das stimmte.
    Nina hatte nicht bemerkt, dass ihre Mutter abbaute. Sie hätte es auf die spannende Geschichte oder die Dunkelheit im Zimmer schieben können, aber das entsprach nicht ganz der Wahrheit.
    Nina hatte sich vor langer Zeit eine einfache Überlebenstechnik angeeignet: Sie hatte gelernt, ihre Mutter anzublicken, ohne sie wirklich zu sehen. Sie wusste noch, wann sie damit angefangen hatte.
    Damals war sie elf gewesen und hatte sich immer noch bemüht, ihre Mutter bedingungslos zu lieben. Ihr Softballteam hatte es geschafft, sich für ein überregionales Turnier in Spokane zu qualifizieren.
    Sie war so aufgeregt darüber, dass sie wochenlang über nichts anderes sprach. Dummerweise hatte sie gedacht, jetzt endlich wäre ihre Mutter stolz auf sie.
    Es überraschte Nina, wie sehr die Erinnerung an den betreffenden Tag noch schmerzte. Ihr Dad hatte arbeiten müssen, daher hatte ihre Mom sie zum Zug gebracht. Sie waren mit Mary Kay und ihrer Mom gefahren, die den ganzen Weg zum Zug aufgeregt über das bevorstehende Turnier redeten. Nina wusste noch, dass sie am Bahnhof ihren Rucksack über die Schulter geworfen hatte, zu ihren kichernden Mitspielerinnen gerannt war und gerufen hatte: »Bye, Mom. Ich winke noch vom Zug!«
    Im Zug waren alle Mädchen sofort zu den Fenstern gestürmt, um ihren auf dem Bahnsteig wartenden Eltern zum Abschied zuzuwinken.
    Doch als Nina die Menge überblickte, fand sie ihre Mutter nicht. Sie wartete nicht mit den anderen Eltern.
    Nina war ihr nicht wichtig genug, dass sie ihr zum Abschied zuwinkte.
    Von da orientierte sich Nina wie Meredith nur noch an ihrem Vater, sprach kaum noch mit ihrer Mutter und erwartete nichts mehr von ihr.
    Es war ihre einzige Möglichkeit, Schmerz zu vermeiden.
    Jetzt würde sie diese Haltung infrage stellen müssen. Jahrelang hatte sie ihre Mutter angeblickt, ohne sie wirklich zu sehen, genau wie sie und Meredith das Märchen angehört hatten, ohne es wirklich zu erfassen. Sie hatten angenommen, es handle sich nur um eine schöne Geschichte; sie hatten nur zugehört, um die Stimme ihrer Mutter zu hören.
    Aber jetzt war alles anders.
    Nina würde sich ändern müssen, um das Versprechen ihrem Vater gegenüber wirklich einzuhalten: Sie würde ihre Mutter wirklich ansehen müssen. Sie würde zuhören und auf jedes einzelne Wort achten müssen.

Sechzehn
    Nina hatte eine unruhige Nacht, in der sie von gefangengenommenen Königen, von schwarzen, von Drachen gezogenen Kutschen und von Mädchen träumte, die sich aus Liebe die Finger abschneiden ließen.
    Schließlich gab sie es auf und schaltete die Nachttischlampe ein. Sie rieb sich die Augen und holte Stift und Papier.
    Das Märchen fing an, sich zu verändern.
    Oder vielleicht war verändern nicht das richtige Wort. Sie waren an eine Stelle der Geschichte gekommen, wo sie vorher noch nie waren. Sie hatte diesen Teil des Märchens nie zuvor gehört. Da war sie ganz sicher.
    Und es gab so viele Details. Ganz untypisch für Märchen. Aber was bedeutete das?
    Sie schrieb Fontanka-Brücke (real).
    Geistesabwesend schlug sie mit dem Stift auf den Block und ging Schritt für Schritt die Geschichte durch.
    Zigaretten. (Seit wann rauchen Mütter in Märchen? Und warum hat die Mutter nicht vorher schon geraucht?)
    Galina Sowieso. Sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte sich nicht an den Namen der Ballerina erinnern. Aber er war russisch gewesen.
    An diesem Punkt ging Nina hinunter ins Arbeitszimmer ihres Vaters und schaltete den Computer ein. Die Internet-Verbindung brauchte eine Ewigkeit, aber

Weitere Kostenlose Bücher