Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Garten im Winter

Ein Garten im Winter

Titel: Ein Garten im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
Vom Netzwerk:
schließlich gab Nina jeden Begriff ein, der ihr einfiel. Sie war so versunken in ihre Recherche, dass sie erschrocken auffuhr, als ihr Meredith die Hand auf die Schulter legte.
    »Du siehst aus, als hättest du die Nacht durchgemacht«, bemerkte Meredith.
    Nina schob den Schreibtischstuhl zurück und sah auf. »Das Märchen beschäftigt mich. Gestern Abend war doch alles anders, findest du nicht? Den Teil haben wir noch nie gehört.«
    »Ja, es war neu«, gab Meredith zu.
    »Hast du die Veränderungen bemerkt? Veras Mutter raucht Zigaretten und trägt ausgeleierte Strümpfe, und Vera ist schwanger, bevor sie heiratet. Wo hat man so was schon mal in einem Märchen gehört? Und hör dir das mal an: Galina Ulanowa war eine berühmte russische Ballerina, die bis 1944 am Kirow-Theater in Leningrad tanzte, und danach am Bolschoi in Moskau. Und sieh dir dieses Bild an: Das Theater hat eine Krone und eine Lyra auf der Kuppel.«
    Meredith beugte sich zum Bildschirm. »Genau wie Mom es beschrieben hat.«
    Nina gab etwas ein, woraufhin ein Bild vom Sommergarten erschien. »Echt. In Sankt Petersburg, was davor Leningrad und noch davor Petrograd hieß. Die Russen ändern bei jedem neuen Oberhaupt den Namen der Stadt. Siehst du die Marmorstatuen und die Linden? Und hier ist das Reiterstandbild aus Bronze, eine berühmte Statue im Park. Kein geflügeltes Pferd, sondern ein Mann auf einem Pferd.«
    Meredith runzelte die Stirn. »Ich hab in Dads Unterlagen einen Brief gefunden. Von einem Professor in Alaska. Er wollte Mom Fragen über Leningrad stellen.«
    »Im Ernst?« Nina rückte wieder näher an den Computer, ließ ihre Finger über die Tastatur fliegen und rief erneut die Biographie von Galina Ulanowa auf. »Der Zenit ihres Ruhms war in den dreißiger Jahren in Leningrad. Es wäre hilfreich, wenn wir wüssten, wie alt Mom ist …« Sie gab Leningrad 1930 ein.
    Auf dem Bildschirm erschien eine Reihe Einträge. Einer von ihnen –  Der Große Terror  – weckte Ninas Aufmerksamkeit. Sie klickte den Link an. »Hör dir das an«, sagte sie, als die Seite geöffnet wurde. »Die dreißiger Jahre in Russland waren geprägt von der sogenannten Säuberung der kommunistischen Partei, bei der Stalins Geheimpolizei einfache Bürger verhaftete und politische Abweichler, ethnische Minderheiten und Künstler unter Beobachtung stellte. Es war eine Zeit umfassender polizeilicher Überwachung mit nächtlichen Verhaftungen, geheimen Tribunalen, jahrelangen Internierungen und Exekutionen.«
    »Schwarze Lastwagen«, sagte Meredith und beugte sich über Ninas Schulter, um den Rest zu lesen. »Die Geheimpolizei holte die Leute in schwarzen Lastwagen ab.«
    »Der Schwarze Ritter ist Stalin«, meinte Nina. »Hinter dem Märchen verbirgt sich eine wahre Geschichte.«
    Sie schob ihren Schreibtischstuhl zurück. Sie und Meredith sahen sich an. Nina spürte, wie in diesem Blick die erste echte Verbindung zwischen ihnen entstand. »Einiges davon ist real«, sagte Nina leise und erschauerte.
    »Ist dir aufgefallen, dass sie in letzter Zeit nicht mehr verrückt oder verwirrt war?«, fragte Meredith.
    »Nicht mehr, seit sie das Märchen erzählt. Meinst du, Dad hat gewusst, dass ihr das helfen würde?«
    »Keine Ahnung«, erwiderte Meredith. »Ich weiß nicht, was das alles bedeutet.«
    »Ich auch nicht, aber wir werden es herausfinden.«
    Auf der Arbeit hatte Meredith Mühe, sich zu konzentrieren. Sie ging nicht davon aus, dass es jemand bemerkte, aber wenn sie in einem Meeting war, mit jemandem telefonierte oder einen Bericht las, ertappte sie sich immer wieder dabei, dass sie mit ihren Gedanken bei ihrer Mutter und dem Märchen war.
    Am Ende des Tages war sie genauso besessen davon wie ihre Schwester. Nach der Arbeit fuhr sie direkt nach Hause und fütterte die Hunde, um sofort darauf nach Belije Notschi und ins Arbeitszimmer ihres Vaters zu gehen.
    Sie kniete sich vor den Kartons auf dem Teppich, zog den mit der Aufschrift Verschiedenes 1970–1980 zu sich und öffnete ihn.
    Dies sollte ihr Ausgangspunkt sein. Nina war vielleicht ein Profi in der Recherche, aber Meredith wusste, wo sie hier im Haus zu suchen hatte.
    Wenn es einen Brief über die Vergangenheit ihrer Mutter gab, warteten vielleicht noch weitere. Möglicherweise gab es auch andere Dokumente, versteckt in falsch etikettierten Ordnern, oder Fotos, verborgen zwischen anderen Andenken.
    Sie fand den Ordner mit der Aufschrift Eãîa Nãóîcáìa und zog ihn heraus. Nachdem sie noch mal den

Weitere Kostenlose Bücher