Ein Gebet für die Verdammten
überhaupt nichts.«
»Die Regeln, die der Abt aufgestellt hat und die für seine Klostergemeinschaft gelten – hält sich in Cill Ria jeder daran?«
Sétach schaute verwundert auf. »Jeder«, bekräftigte sie. »Natürlich, jeder hält sich daran.«
»Auch Ultán selbst?«
Einen Augenblick blinzelte das Mädchen, und seine Wangen röteten sich leicht. »Ultán ist …
war
… doch der Abt!«
»Damit ist meine Frage nicht beantwortet«, mahnte Fidelma.
»Er hätte nicht Regeln entworfen, die für alle gelten, nur nicht für ihn? Ich begreife nicht, was du ihm unterstellen willst. Es ist doch ganz offenbar, wer ihn getötet hat, und deine ganze Verteidigung wird daran nichts ändern.«
Im Gegensatz zu vorher war eine Gefühlswärme in der Stimme der jungen Nonne zu spüren. Begab sich Fidelma auf gefährlichen Boden?
»Über Schuld oder Unschuld urteilen die Brehons. Gegenwärtig ist nichts offenbar … Es sei denn, du hast etwas gesehen oder erfahren, das du nicht preisgibst.«
»Was meinst du damit?«
»Eben das, was ich gesagt habe. Ist dir noch etwas bekannt, das in dieser Angelegenheit weiterhelfen könnte?«
Sie verneinte das mit rascher Kopfbewegung. »Ich weiß lediglich, was jedermann weiß. Nämlich, daß Abt Ultán getötet wurde und daß man gesehen hat, wie Muirchertach aus dem Gemach herauskam. Ist damit nicht offenbar, wer ihn ermordet hat?«
Fidelma lächelte nachsichtig. »Keineswegs, meine Liebe.« Sie hielt einen Moment inne und fragte dann: »Wie bist du dazu gekommen, in die Abtei Cill Ria einzutreten? Was hat dich bewogen, ein Mitglied der Glaubensgemeinschaft zu werden?«
Schwester Sétach runzelte die Stirn. »Ich habe eine gute Handschrift, und Sprachen liegen mir. Aber leider gehörte meine Familie nicht zu den
flaith
oder dem Adel, auch nicht zu den gebildeten Ständen. Wir waren einfache
céile,
freie Clansleute, die ihr Stück Land beackerten, ihre Steuern zahlten zum Fortbestand der Gemeinde und in Kriegszeiten Kämpfer in die Schlacht schickten. Wir verfügten weder über Reichtum noch über Beziehungen. Wollte ich also meine Gaben nutzen, blieb mir keine andere Wahl, als mich in ein Kloster zu begeben. Ich gehöre zu den Uí Thuirtrí, die an den Ufern des Loch nEchach, des Eoghaidhs-Sees leben. Ich entschied mich für Cill Ria, weil das in der Nähe unseres Anwesens ist.«
»Die
céile
sind der Grundstock unserer gesamten Gesellschaft. Ohne sie könnten wir als Gemeinwesen gar nicht existieren«, belehrte sie Fidelma sanft.
»Du hast gut reden, denn du bist eine vom Adel. Bist sogar mehr als eine
flaith
– bist die Schwester eines Königs. Was weißt du von der Arbeit auf dem Feld, vom Hüten der Kühe und Schafe?« Sie klang bitter.
»Solche Arbeiten habe ich auch verrichtet, freilich mußte ich das nicht tun, um mir den Lebensunterhalt zu sichern«, gestand Fidelma ein. »Ich vermute, du hast die in Cill Ria geltenden Regeln gekannt, bevor du dort hingingst?«
»So genau nicht. Ich bin eingetreten, und erst dann wurden mir die Regeln beigebracht, die Abt Ultán vertrat.«
»Ich habe gehört, daß die Frauen dort getrennt von den Männern leben, ist das so?«
»Ja, das ist so, ein Bach fließt zwischen den beiden Häusern. Auf der einen Seite ist die Gemeinschaft der Männer, auf der anderen die der Frauen. Erst als ich …« Sie unterbrach sich.
»Sprich weiter, was wolltest du sagen?«
»Erst als ich hier in den Süden kam, habe ich erfahren, die meisten Abteien sind … wie heißt das? Con … con?«
»Conhospitae?«
half Fidelma ein und krauste dann die Stirn. »Ist deine Reise hierher das erste Mal, daß du außerhalb der Mauern von Cill Ria bist?«
Schwester Sétach nickte bedächtig. »Ich hatte keine Ahnung, daß es noch andere Auslegungen der Glaubensregeln gibt. Uns wurden nur die Regeln von Abt Ultán gelehrt.«
»Wie ist das mit Schwester Marga? Wußte sie etwas von den Auseinandersetzungen, die außerhalb der Mauern von Cill Ria die Gemüter erregen? Sie war doch von Ultán auserwählt worden, ihn auf dieser Reise zu begleiten, wie du mir gestern erzählt hast.«
»Dazu kann ich nichts sagen. Sie hat Abt Ultán schon mehrfach auf den Fahrten nach Ard Macha begleitet. Ich war daher hocherfreut, als sie mich fragte, ob ich mit ihr mitkommen wollte.«
Fidelma holte tief Luft. »Und du weißt wirklich nicht, wo ich Schwester Marga jetzt finden könnte?«
»Nein, wirklich nicht«, kam entschieden die Antwort.
Fidelma war mit dem Verlauf dieser
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