Ein gefährlicher Gentleman
Warum hatte Alice überhaupt ihren Sohn entführt? Warum verließ sie so kurz nach ihrer Rückkehr England schon wieder? Luke hatte sichtlich besorgt gewirkt, als er heute zu ihr kam. Er wusste sicher etwas, das sie nicht wusste. Und seine Besorgnis wurde durch das, was sie von Alices Hausmädchen erfahren hatten, noch verstärkt.
Wenn er nicht gewesen wäre, hätte sie schlicht nicht gewusst, was sie tun sollte.
Eigentlich wusste Madeline auch jetzt nicht, was sie tat. Die Angst lähmte sie, und sie saß mit so fest verschränkten Händen in der Kutsche, dass ihre Finger schmerzten. Ein- oder zweimal wäre sie beinahe von der Polsterbank gehüpft, weil die Kutsche so viel Fahrt aufgenommen hatte und sie sich nirgends festhielt.
Sie war Luke dankbar. Nicht bloß, weil er so viel für sie tat. Sie war auch froh, dass er darauf verzichtete, ihr zu versichern, dass alles wieder gut würde. Er war ehrlich besorgt, das konnte sie an der Anspannung in seinen breiten Schultern ebenso erkennen wie an dem grimmigen Zug um seinen Mund. Er versuchte nicht, sie mit Plattitüden oder falschen Hoffnungen zu beruhigen. Obwohl ihre Seele sich bei der Vorstellung, wie Trevor vielleicht ängstlich und allein irgendwo saß und sie dringend brauchte, schmerzlich zusammenkrampfte, war es beruhigend, dass ihr niemand sagte, sie brauche sich keine Sorgen um ihn zu machen.
Als ob sie das könnte. Sie war völlig gelähmt.
Aber sie war immerhin nicht allein. Luke saß ihr gegenüber, die langen Beine ausgestreckt. Sein Blick ruhte ernst und besorgt auf ihrem Gesicht.
»Warum lässt Lord Longhaven Alice beobachten?«
»Ich bin nicht sicher. Michael ist …« Er verzog den Mund. »Sagen wir, er ist nicht das, was er zu sein scheint. Oh ja, er ist der Sohn des Duke of Southbrook, und wenn er will, kann er sehr schlagfertig und manchmal direkt charmant sein. Die Frauen jagen ihn, aber sie wissen nicht annähernd genug über ihn. Ich war noch nie so froh wie heute, dass er das ist, was er ist.«
Das war eine Antwort, die zugleich keine Antwort war. Aber Madeline hatte das Gefühl, trotzdem zu verstehen, was er damit sagen wollte. Es gab etwas, das er ihr verschwieg. Wenn sie dieses Detail wissen müsste, würde er es ihr offenbaren. Es war wichtig, sonst würde er kein Geheimnis daraus machen. Aber es betraf nicht ihre Bemühungen, Trevor zurückzuholen. »Er hilft uns?«
»Es gibt niemanden, der uns besser als Michael helfen kann«, bestätigte er knapp.
Das war alles, was zählte.
Als die Kutsche schlingernd zum Stehen kam, sprang Luke mit einer fließenden Bewegung heraus und hob sie ohne Umschweife über die Trittstufen. »Wir werden schon herausfinden, ob sie eine Schiffspassage gebucht hat.«
Aber dreißig Minuten später wussten sie nicht mehr als vorher. Es war ihnen bisher nur gelungen, mit den Kapitänen dreier Schiffe zu reden, und die Zeit verrann ergebnislos.
Der Pier war neblig, kalt und unangenehm. Es roch nach altem Fisch, und die Seeleute drängten sich rücksichtslos an ihnen vorbei. In Madelines Innern herrschte eine noch größere Kälte, und ihr Mantel war längst völlig durchnässt.
Trevor.
Beim vierten Schiff stießen sie auf eine Goldader. Nicht in Form eines Offiziers, der etwas zu ihrer Suche beitragen konnte. Sie entdeckte einen Mann, dem sie schon einmal begegnet war – er hatte ihr das Tagebuch zurückgebracht. Da stand er, mit seiner Narbe und den zerrissenen Kleidern. Sein Lächeln war spöttisch, als er aus den Schatten auftauchte. Die Stiefel klackerten laut auf dem nassen, rutschigen Dock. »Lord Altea. Ich habe schon nach Euch Ausschau gehalten. Ich glaube, unsere Interessen sind augenblicklich gegensätzlicher Natur.«
Luke nickte. Er drückte beruhigend Madelines Hand. »Alice Stewart?«
»Wir haben sie. Lord Longhaven hat einen Agenten darauf angesetzt, ihr zu folgen, und er hat sie dabei erwischt, wie sie an Bord jenes Schiffes gehen wollte.« Er wies in die Schatten, wo ein schwerfälliges Schiff an der Vertäuung im Seegang auf und nieder ging. »Es wäre morgen früh Richtung Frankreich ausgelaufen.«
Vielleicht, aber nur vielleicht begann ihr Herz langsam wieder zu schlagen. Madeline hätte vor Freude am liebsten geweint.
»Hatte sie ein Kind bei sich? Einen Jungen?«
Der Blick des vernarbten Mannes streifte kurz Madelines Gesicht, ehe er sich wieder auf Luke richtete. »Nein. Sie möchte mit uns verhandeln.«
Die Freude schwand. Verhandeln?
Heiser fragte Luke: »Was verlangt
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