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Ein gefährliches Werkzeug

Titel: Ein gefährliches Werkzeug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Christie Murray
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fürchten begann, als wäre sie bei Nacht allein.
    Plötzlich drangen fröhliche Kinderstimmen an ihr Ohr und um eine Wegbiegung kam ihr lärmend und spielend ein halbes Dutzend Dorfkinder entgegen. Ein etwa vierjähriger Schlingel marschierte langsam und feierlich, eifrig mit einem Stück Süßholz beschäftigt, baarhäuptig hinterdrein. Die andern waren aus dem Gesichtskreis verschwunden und die Grainger kniete, des Staubes nicht achtend, nieder und rief mit ausgebreiteten Armen: »Komm zu mir, Herzchen, komm!«
    Hatte sie wirklich gesprochen? Sie konnte es nicht sagen; das Kind betrachtete sie mit orientalischem Ernst und gab keine Antwort.
    »Lieber, kleiner Junge komm zu mir! Willst du nicht, mein Liebling? Willst du nicht?«
    »Nein!« sagte das Kind. »Ich will nicht!«
    Das Mädchen sprang auf und faltete die Hände.
    »Gott sei Dank!« rief sie. »Gott sei Dank!«
    Nun wagte sie ihre Schritte zu beschleunigen. Als sie sich dem Bahnhof näherte, bemerkte sie in der Ferne den Rauch eines sich nähernden Zuges. Aengstlich blickte sie um sich, als sie aber niemand sah, der sie kannte, eilte sie nach der Kasse. Allein aus lauter Angst, ihre neu gewonnene Fähigkeit zu reden möchte ihr wieder entschwunden sein, fand sie die Worte nicht, die sie suchte. Ein Bauer drängte sie beiseite und verlangte ein Retourbillet dritter Klasse nach London. Dies waren die Worte, die ihr fehlten, und aus Angst, sie wieder zu verlieren, sprach sie dieselben vor sich hin, während der Mann sein Geld gewechselt bekam. Dann faßte sie Mut, verlangte ihre Fahrkarte, wurde verstanden und bedient. Nun wartete sie auf dem Bahnsteig, bis der Zug einfuhr, und stieg in eine Abteilung dritter Klasse. Außer ihr fuhr nur noch eine pausbackige alte Bäuerin in dem Coupé und mit dieser wechselte sie ab und zu einige Worte, um sich immer wieder aufs neue zu überzeugen, daß sie nicht träume, sondern wirklich die Sprache wiedergefunden habe.
    Auf dem Bahnhof von Ludgate Hill angelangt, stieg sie aus und eilte nach dem Temple. Sie stieg die hohen Treppen zu Esdens Wohnung hinan und stand, nachdem sie gepocht, die Hände aufs Herz gedrückt, atemlos vor seiner Thür.
    Esden öffnete und sah sie mit Staunen vor sich stehen. Seine linke Seite war durch seine Nerven- und Zahnschmerzen noch immer entstellt, und dies gab ihm, im Verein mit den Spuren der schlaflosen Nächte, ein so ungewöhnliches Aussehen, daß er ihr beinahe Angst einflößte.
    »Du hier!« sagte er mürrisch. »Was führt dich zu mir?«
    Noch einen Augenblick blieb sie schweigend und nach Atem ringend stehen: als er aber Miene machte, die Thür wieder zu schließen, stürzte sie in den Flur hinein und packte ihn mit beiden Händen am Arm.
    »Gott hat mir die Sprache wiedergeschenkt,« sagte sie, »und ich bin gekommen, Sie zu warnen.«
    »Sehr freundlich,« erwiderte er, »aber ich weiß wahrhaftig nicht, vor was du mich warnen könntest.«
    Ihre Augen durchbohrten ihn, aber er suchte ihren Blicken auszuweichen; die eine Hand lag noch immer bebend auf seinem Arm und mit der andern warf sie die Thür hinter sich ins Schloß.
    »Wyncott,« sagte sie flüsternd, »ich sah Sie aus dem Zimmer kommen.«
    Er schrak so heftig zurück, daß sein Kopf an die Wand stieß.
    »Aus dem Zimmer! Aus welchem Zimmer? Bist du verrückt geworden?«
    »Fräulein Pharrs Zimmer. Ich sah Sie mit dem Saffiankästchen in der Hand.«
    Er versuchte zu antworten, aber die Zunge klebte ihm am Gaumen und er konnte weder Worte noch Gedanken finden. Sie hatte ihn wieder mit beiden Händen gepackt, und als sie ihr schmerzliches Geständnis abgelegt hatte, neigte sich ihr Antlitz auf ihre Hände und Thronen entströmten ihren Augen. Lange, lange standen sie so, dann machte er endlich eine kleine Bewegung, um den kleinen Vorplatz zu verlassen. Sie folgte ihm ins Wohnzimmer, wo er auf das Sofa sank und mit abgewendetem Gesicht gedankenlos aus dem Fenster starrte. Was ging ihn dies alles an! Es war ihm gleichgültig, völlig gleichgültig.
    Leise schlich sie sich an ihn heran und ergriff, neben ihm niederknieend, plötzlich die Hand, die regungslos an seiner Seite herniederhing.
    »Wyncott,« sagte sie mit gebrochener Stimme, »ein Gentleman – ein Mann von Ehre –«
    Thränen erstickten ihre Stimme, sie konnte nicht weiter reden, aber ihre Worte drangen ihm ins Herz und ihr Stachel erweckte ihn zu neuem Leben und zum Bewußtsein; wild sprang er auf und lief wie rasend im Zimmer hin und her. Eine Weile blieb sie

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