Ein Gesicht in der Menge
Vergessen sank, das aus drei Teilen Ambien und zwei Teilen Scotch bestand, erkannte er, dass Ellies Gezeter seltsam befreiend war. Wen konnten die (wer auch immer die sein mochten) sonst noch schicken, um ihn zu quälen? Wer konnte ihm ein noch schlechteres Gewissen machen? Seine Mutter? Sein Vater? Er hatte die beiden geliebt, aber nicht so sehr wie Ellie. Miss Pritchett? Sein Onkel Elmer, der ihn immer gekitzelt hatte, bis er in die Hose machte?
Evers kuschelte sich unter die Decke und musste kichern. Nein, das Schlimmste war überstanden. Und auch wenn es am nächsten Abend im Trop zu einem weiteren tollen Vergleich kommen würde – Josh Beckett gegen James Shields –, musste er sich das ja nicht ansehen. Sein letzter Gedanke war, dass er ab jetzt mehr Zeit zum Lesen haben würde. Lee Child vielleicht. Er hatte schon länger vor, sich dessen Büchern zu widmen.
Doch zuerst musste er den Harlan Coben zu Ende lesen. Den ganzen Nachmittag war er in die Welt der grünen, erbarmungslosen Vorstädte vertieft. Als die Sonne über einem weiteren Sonntag in St. Petersburg unterging, war er schon auf den letzten fünfzig Seiten. Plötzlich summte sein Handy. Er griff mit spitzen Fingern danach – wie nach einer gespannten Mausefalle – und betrachtete das Display. Was er dort sah, war eine Erleichterung. Der Anruf kam von Kaz, und falls sein alter Kumpel keinen Herzinfarkt gehabt hatte (nicht völlig ausgeschlossen; er hatte gut fünfzehn Kilo Übergewicht), rief er eher aus Punta Gorda als aus dem Jenseits an.
Dennoch war Evers vorsichtig; angesichts der jüngsten Vorkommnisse hatte er allen Grund dazu. «Kaz, bist du das?»
«Wer zum Teufel soll’s denn sonst sein?», fragte Kaz mit dröhnender Stimme. Evers zuckte zusammen und hielt das Handy vom Ohr weg. «Etwa der verdammte Barack Obama?»
Evers lachte kraftlos. «Nein, ich …»
«Verdammter Dino Martino! Du bist zum Kotzen, Kumpel! Plätze in der ersten Reihe, und du sagst nicht mal Bescheid?»
Aus weiter Ferne hörte sich Evers sagen: «Ich hatte nur eine einzige Karte.» Er blickte auf die Uhr. Zwanzig nach acht. Inzwischen müsste das zweite Inning laufen – es sei denn, die Rays gegen die Red Sox war das sonntägliche Acht-Uhr-Abend-Spiel auf ESPN .
Er griff nach der Fernbedienung.
Kaz lachte inzwischen. So wie er damals auf dem Schulhof gelacht hatte. Damals hatte es schriller geklungen, doch ansonsten war es dasselbe Lachen.
Er
war derselbe. Das war ein deprimierender Gedanke. «Ja, ja, ich nehm dich bloß auf den Arm. Wie ist der Blick von da?»
«Klasse», sagte Evers und drückte den Einschaltknopf der Fernbedienung. Auf Fox 13 lief ein alter Film, in dem Bruce Willis alles Mögliche in die Luft jagte. Er gab 29 ein, und der Sender sprang auf ESPN um. Shields warf gegen Dustin Pedroia, den zweiten Batter der Sox. Das Spiel hatte gerade erst angefangen.
Ich bin zum Baseball verdammt
, dachte Evers.
«Dino? Erde an Dino Martino! Bist du noch dran?»
«Ja», sagte er und stellte den Ton lauter. Pedroia schlug vorbei. Die Zuschauer brüllten; die nervenden Kuhglocken, die die Rays-Fans bevorzugten, bimmelten voller Inbrunst. «Pedie ist gerade rausgeflogen.»
«Sag bloß! Ich bin doch nicht blind, Stevie Wonder. Die Rays-Fans sind ganz schön aufgedreht, was?»
«Aber total», sagte Evers gekünstelt. «Toller Abend für ein Baseballspiel.»
Jetzt war Adrian Gonzalez dran. Und in der ersten Reihe direkt hinter dem Fangzaun saß tatsächlich Dean Patrick Evers und machte einen auf schrumpeligen alten Winterflüchtling, der seine goldenen Jahre im Sonnenscheinstaat verlebte.
Er trug einen lächerlichen Schaumstofffinger, und obwohl er die Schrift nicht lesen konnte, nicht mal in HD , wusste er, was draufstand: DIE RAYS SIND DIE NR . 1 . Der Evers zu Hause starrte den Evers hinter der Home Plate an, der das Handy ans Ohr hielt. Der Evers im Stadion starrte zurück und hielt dasselbe Handy in der Hand, in der anderen den Schaumstofffinger. Von einer Empörung ergriffen, die nicht mal sein fassungsloses Erstaunen völlig auslöschen konnte, sah er, dass der Evers im Stadion ein Rays-Trikot trug.
Ausgeschlossen
, dachte er.
Das sind Verräterfarben.
«Da bist du ja!», rief Kaz triumphierend. «Wink mir mal, Kumpel!»
Der Evers im Stadion hob den Schaumstofffinger und wedelte feierlich hin und her, wie ein riesiger Scheibenwischer. Der Evers zu Hause machte mit seiner freien Hand unwillkürlich dasselbe.
«Das Hemd gefällt mir, Dino», sagte
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