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Ein Gesicht in der Menge

Ein Gesicht in der Menge

Titel: Ein Gesicht in der Menge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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tief und krächzend. «Besonders wo ich grad mit dir rede.»
    «Du hast angerufen, um zu sehen, ob ich noch am Leben bin, was?»
    «Ja.» Jetzt, wo Kaz sich beruhigte, wirkte er verwirrt.
    «Sag mir eins – wenn sich doch rausgestellt hätte, dass ich tot bin, hättest du dann eine Nachricht auf dem AB hinterlassen?»
    «Was? Mein Gott, keine Ahnung.» Kaz wirkte verwirrter denn je, aber das war nichts Neues. Er war schon immer verwirrt gewesen. Über Ereignisse, über andere Leute, wahrscheinlich sogar über seinen eigenen Herzschlag. Vermutlich war er auch deshalb oft so wütend gewesen. Selbst wenn er nicht wütend war, war er
bereit gewesen
, wütend zu sein.
    Ich spreche von ihm in der Vergangenheitsform
, stellte Evers fest.
    «Der Typ, mit dem ich geredet hab, sagte, sie hätten dich in deiner Wohnung gefunden. Du wärst schon eine Weile tot gewesen.»
    Der Mann, der neben Evers saß, stieß ihn wieder an. «Siehst gut aus, Kumpel», sagte er.
    Auf dem Großbildschirm, schockierend in seiner heimeligen Vertrautheit, war Evers’ dunkles Schlafzimmer zu sehen. Mitten auf dem Bett, das er mit Ellie geteilt hatte, einem breiten Doppelbett mit Pillow-Top-Matratze, das inzwischen zu groß für ihn war, lag Evers reglos und bleich, die Augen halb geschlossen, seine Lippen bläulich, sein Mund eine starre Öffnung. An seinem Kinn klebte getrockneter Schaum, der wie alte Spinnweben aussah.
    Als Evers sich seinem Sitznachbarn zuwandte, um sich bestätigen zu lassen, was er sah, war der Platz neben ihm – die Reihe, der Block, das ganze Tropicana Field – leer. Und dennoch spielten die Mannschaften weiter.
    «Sie haben gesagt, du hättest dich umgebracht.»
    «Das stimmt nicht», erwiderte Evers und dachte:
Das verdammte abgelaufene Ambien. Und die Tabletten mit dem Scotch zu nehmen, war auch keine besonders gute Idee. Wie lange ist das jetzt her? Freitagabend?
    «Ich weiß, das klang nicht nach dir.»
    «Und, siehst du dir gerade das Spiel an?»
    «Ich hab’s ausgeschaltet. Der verdammte Bulle – dieser verdammte Pinsel – hat mich aus der Fassung gebracht.»
    «Schalt’s wieder ein», sagte Evers.
    «Okay», sagte Kaz. «Ich muss mir bloß die Fernbedienung schnappen.»
    «Weißt du, wir hätten netter zu Lester Embree sein sollen.»
    «Schnee von gestern, alter Kumpel. Die Messe ist gelesen. Oder was auch immer.»
    «Vielleicht nicht. Du solltest von jetzt an nicht mehr so wütend sein. Versuch, netter zu den Leuten zu sein. Zu allen. Tust du mir den Gefallen, Kaz?»
    «Was zum Himmel ist denn mit dir los? Du klingst ja wie eine verdammte Muttertagskarte.»
    «Ja, kann sein», sagte Evers. Irgendwie fand er diesen Gedanken sehr traurig. Auf dem Pitcher’s Mount schielte Beckett nach dem Signal des Catchers.
    «He, Dino! Da bist du ja! Du
siehst
zumindest nicht
aus
wie ein Toter.» Kaz stieß sein altes, rostiges Lachen aus.
    «Ich fühl mich auch nicht so.»
    «Einen Augenblick hatte ich Angst», sagte Kaz. «Dieser verdammte Vollidiot. Frag mich, wo er meine Nummer herhatte.»
    «Keine Ahnung», sagte Evers und betrachtete das leere Stadion. Obwohl er es natürlich doch wusste. Nach Ellies Tod war Kaz von den neun Millionen Menschen in Tampa-St. Pete der Einzige gewesen, den er als Ansprechpartner für Notfälle angeben konnte. Und dieser Gedanke war noch trauriger.
    «Okay, Kumpel, jetzt guck dir weiter das Spiel an. Vielleicht können wir nächste Woche Golf spielen, wenn’s nicht regnet.»
    «Mal sehen», sagte Evers. «Bleib cool, Kazzie, und …»
    Kaz stimmte mit ein, und wie so oft sangen sie gemeinsam die letzte Zeile:
«Don’t let the bastards get you down!»
    Das war’s, es war vorbei. Er spürte, dass wieder alles in Bewegung kam, nahm hinter sich, am Rand seines Blickfelds, Unruhe wahr. Das Handy in der Hand, drehte er sich um und sah, wie der faltige Platzanweiser mit knirschenden Schritten seinen Onkel Elmer, seine Tante June und mehrere Mädchen, mit denen Evers während der Highschool ausgegangen war, die Treppe herunterführte, darunter auch die, die nur halb bei Bewusstsein gewesen war, als er mit ihr schlief – oder vielleicht kam «bewusstlos» der Wahrheit näher. Hinter ihnen gingen Miss Pritchett, die ausnahmsweise das Haar offen trug, Mrs. Carlisle aus dem Drugstore und die Jansens, die ältlichen Nachbarn, deren Pfandflaschen er von der hinteren Veranda gestohlen hatte. Wie auf einem Firmenausflug füllte ein zweiter uralter Platzanweiser die oberen Reihen des Blocks mit

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