Ein Gesicht so schön und kalt
Kerry. Ich werde mich mal umhören, wenn du willst.
Grace und ich fanden beide, du solltest einen zweiten Arzt
konsultieren, aber wir wollten uns nicht einmischen. Ist gestern
irgend etwas vorgefallen, weshalb du dich dazu entschlossen
hast?«
»Ja und nein. Jetzt kommt gleich jemand zu einer
Besprechung. Ich erzähl es dir dann später, wenn wir uns das
nächste Mal sehen.«
»Ich ruf dich noch heute nachmittag zurück und gebe dir
einen Namen durch.«
»Dank dir, Jonathan.«
»Aber gern, Euer Ehren.«
»Jonathan, sag so was nicht. Du bringst mir noch Unglück.«
Als die Verbindung unterbrochen wurde, hörte sie ihn noch
lachen.
Ihre erste Verabredung an diesem Vormittag galt Corinne
Banks, der jungen Anwältin, der sie als Prozeßbefugte ein
Verfahren wegen eines Verkehrsunfalls mit Todesfolge
übertragen hatte. Es war für den kommenden Montag im
Gerichtskalender eingetragen, und Corinne wollte einige
Aspekte der Anklage durchgehen, die sie vorzubringen
beabsichtigte.
Corinne, eine junge Schwarze von siebenundzwanzig Jahren,
hatte alle Voraussetzungen zu einer Staranwältin vor Gericht,
dachte Kerry. Da klopfte es an die Tür, und Corinne trat mit
einem dicken Aktenordner unter dem Arm ein. Sie grinste über
das ganze Gesicht. »Raten Sie mal, was Joe ausgegraben hat«,
sagte sie glücklich.
Joe Palumbo war einer ihrer besten Ermittlungsbeamten.
Kerry lächelte. »Na, da bin ich aber gespannt.«
»Unser achsounschuldiger Angeklagter, der behauptet hat, er
hätte noch nie zuvor einen Unfall gehabt, sitzt ganz schön in der
Tinte. Unter einem gefälschten Führerschein geht eine ganze
Serie von ernsten Verkehrsdelikten auf sein Konto, darunter eine
weitere fahrlässige Tötung vor fünfzehn Jahren. Ich bin wirklich
scharf drauf, den Kerl zur Strecke zu bringen, und jetzt bin ich
überzeugt, daß wir’s auch schaffen.« Sie legte die Akte hin und
schlug sie auf. »Sei’s drum jetzt zu dem, worüber ich mit Ihnen
reden wollte… «
Zwanzig Minuten später, nachdem Corinne gegangen war,
griff Kerry nach dem Telefon. Corinnes Hinweis auf den
Ermittler hatte sie auf eine Idee gebracht.
Als Joe Palumbo mit seinem gewohnten »Japp« antwortete,
fragte Kerry: »Joe, hast du über Mittag schon was vor?«
»Rein gar nichts, Kerry. Willst du mich vielleicht zum Lunch
im Solari’s einladen?«
Kerry lachte. »Würde ich ja liebend gern, aber ich hab’an
etwas anderes gedacht. Wie lange arbeitest du jetzt schon hier?«
»Zwanzig Jahre.«
»Hast du irgend etwas mit dem Reardon-Mordfall vor
ungefähr zehn Jahren zu tun gehabt, der Sache, die man in den
Medien den Sweetheart-Mord nannte?«
»Das war eine Riesensache. Nein, ich war da nicht beteiligt,
aber soweit ich mich erinnere, ging die Sache ziemlich rasch
über die Bühne. Unser Anführer hat sich damit einen Namen
gemacht.«
Kerry wußte, daß Palumbo nicht gerade begeistert von Frank
Green war. »Wurde da nicht mehrmals Berufung eingelegt?«
fragte sie.
»Sicher doch. Sie kamen ständig mit neuen Theorien daher.
Es schien überhaupt nicht mehr aufzuhören«, antwortete
Palumbo.
»Ich glaube, die letzte Eingabe für eine Wiederaufnahme des
Falls wurde erst vor ein paar Jahren abgelehnt«, sagte Kerry,
»aber jetzt ist was aufgetaucht, was mir den Fall interessant
erscheinen läßt. Wie auch immer, mir geht’s um folgendes: Ich
möchte, daß du ins Archiv gehst und alles ausgräbst, was im Record über den Fall gedruckt worden ist.«
Sie malte sich aus, wie Joe jetzt gutmütig die Augen
verdrehte. »Für dich immer, Kerry. Alles was du willst. Aber
wieso? Der Fall ist doch längst gegessen.«
»Frag mich später danach.«
Kerrys Lunch bestand aus einem Sandwich und Kaffee an
ihrem Schreibtisch. Um halb zwei kam Joe mit einem prall
gefüllten Umschlag herein. »Die gewünschten Unterlagen.«
Kerry schaute ihn voll Zuneigung an. Joe war nicht sehr groß,
wurde allmählich grau, hatte an die zehn Kilo Übergewicht und
ein spontanes Lächeln und war von einer entwaffnenden
Freundlichkeit, hinter der man seine Fähigkeit, sich in scheinbar
unwichtige Details zu verbeißen, nicht vermutete. Kerry hatte an
einigen ihrer wichtigsten Fälle mit ihm zusammengearbeitet.
»Du hast was gut bei mir«, sagte sie.
»Vergiß es, aber ich muß zugeben, daß ich neugierig bin. Was
interessiert dich denn so an dem Reardon-Fall, Kerry?«
Sie zögerte. Irgendwie schien es zu diesem Zeitpunkt nicht
richtig zu sein, über
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