Ein Gesicht so schön und kalt
nichts mehr zu tun. Sie hatte
versucht, im Haus mitzuarbeiten, aber die Haushälterin wollte
nichts von ihrer Hilfe wissen.
Da ihr nun soviel freie Zeit blieb, hatte sich Dolly mittlerweile
als Babysitterin in der Nachbarschaft etabliert, und dieses
Arrangement bewährte sich bestens. Sie hatte wirklich Freude
an kleinen Kindern und las ihnen gerne vor oder spielte jederzeit
irgendein Spiel mit ihnen. Praktisch alle hatten sie ins Herz
geschlossen. Anlaß zur Verärgerung gab es einzig und allein,
wenn sie wieder einmal bei der Polizei anrief, um verdächtig
aussehende Gestalten zu melden. Doch das hatte sie nun schon
seit zehn Jahren nicht mehr getan - nicht mehr, seit sie als
Zeugin im Reardon-Mordprozeß geladen wurde. Ihr lief
jedesmal ein Schauder über den Rücken, wenn sie daran denken
mußte. Der Staatsanwalt hatte sie so schrecklich bloßgestellt.
Dorothy und Lou hatten sich furchtbar gedemütigt gefühlt.
»Mutter, ich hab’dich doch angefleht, nicht mit der Polizei zu
reden«, hatte Dorothy sie damals angefahren.
Aber Dolly hatte es einfach tun müssen. Sie kannte doch Skip
Reardon und mochte ihn und kam von dem Gefühl nicht los, sie
müsse versuchen, ihm zu helfen. Außerdem hatte sie den Wagen
tatsächlich gesehen, genau wie Michael, der fünfjährige Junge
mit all den Lernschwächen, um den sie sich an jenem Abend
gekümmert hatte. Er hatte den Wagen auch gesehen, aber Skips
Anwalt hatte sie aufgefordert, dies nicht zu erwähnen.
»Das würde unserm Fall nur schaden«, hatte Mr. Farrell
gesagt. »Alles, was wir von Ihnen wollen, ist, daß Sie berichten,
was Sie gesehen haben: daß um neun Uhr eine dunkle
Limousine vor dem Haus der Reardons geparkt war und einige
Minuten später wieder wegfuhr.«
Sie war sich sicher, daß sie eine der Ziffern und einen der
Buchstaben erkannt hatte, eine 3 und ein L. Aber dann hielt der
Staatsanwalt hinten im Gerichtssaal ein Nummernschild hoch,
und sie konnte es nicht ablesen. Und er brachte sie zu dem
Eingeständnis, daß sie Skip Reardon ausgesprochen gern hatte,
weil er eines Abends geholfen hatte, ihr Auto freizuschaufeln,
als es in einer Schneewehe steckengeblieben war.
Dolly wußte, daß Skips Hilfsbereitschaft noch lange nicht
bedeutete, daß er kein Mörder sein konnte, aber sie fühlte tief in
ihrem Herzen, daß er unschuldig war, und sie betete jeden
Abend für ihn. Selbst jetzt noch, wenn sie gegenüber vom
Reardonschen Haus Kinder hütete, schaute sie manchmal zum
Fenster hinaus und dachte an den Abend, als Suzanne ermordet
wurde. Und sie dachte an den kleinen Michael - seine Familie
war vor einigen Jahren weggezogen -, der nun fünfzehn Jahre alt
sein mußte, und daran, wie er auf das komische fremde Auto
gedeutet und gesagt hatte: »Papas Auto.«
Dolly konnte nicht wissen, daß zur selben Zeit an diesem
Sonntag abend, während sie vom Fenster auf das frühere Haus
der Reardons blickte, etwa fünfzehn Kilometer weiter weg
Geoff Dorso und Kerry McGrath im Restaurant Villa Cesare in
Hillsdale gerade über sie sprachen.
29
In stillschweigender Übereinkunft enthielten sich Kerry und
Geoff irgendeiner Erwähnung des Reardon-Falles, bis der
Kaffee serviert wurde. Zuvor erzählte Geoff beim Essen von
seinen frühen Jahren in New York. »Ich dachte damals von
meinen Verwandten in New Jersey, daß sie hinterm Mond
leben«, erklärte er. »Und dann, als wir selbst dorthin umzogen
und ich dort aufwuchs, hab’ ich beschlossen, zu bleiben.«
Er erzählte Kerry, er habe vier jüngere Schwestern.
»Ich beneide Sie«, erwiderte sie. »Ich bin Einzelkind, und ich
bin immer schrecklich gern zu meinen Freunden nach Hause
gegangen, wo es eine große Familie gab. Ich habe es mir immer
schön vorgestellt, wenn da ein paar Geschwister um einen rum
wären. Mein Vater starb, als ich neunzehn war, und meine
Mutter hat wieder geheiratet, als ich einundzwanzig war, und ist
nach Colorado gezogen. Ich seh sie zweimal im Jahr.«
Geoffs Augen nahmen einen sanften Ausdruck an. »Da haben
Sie nicht gerade viel Familienzusammenhalt«, sagte er.
»Nein, wahrscheinlich nicht, aber Jonathan und Grace Hoover
haben geholfen, die Lücke auszufüllen. Sie sind wunderbar zu
mir, fast wie Eltern.«
Sie unterhielten sich über das Jurastudium und stimmten darin
überein, daß das erste Jahr so grauenhaft war, daß sie es
schlimm fänden, das nochmals durchstehen zu müssen.
»Was brachte Sie zu dem Entschluß, Verteidiger zu
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