Ein glücklicher Tag im Jahr 2381
diesem Schlafraum nie benützt. Was immer man tut, man tut es vor den Augen der anderen. Die totale Zugänglichkeit eines jeden gegenüber jedem anderen ist eine unverzichtbare Regel, damit die Urbmon-Zivilisation überleben kann, und in einer Massenunterkunft wie dieser ist diese Regel sogar noch wichtiger.
Aurea bleibt vor dem majestätischen Fenster am westlichen Ende des Schlafraums stehen und blickt nach draußen. Der Sonnenuntergang beginnt. Der gewaltige Block von Urban Monad 117 gegenüber wirkt wie in Rot-Gold getaucht. Aurea versucht den Linien des gigantischen Turms mit den Augen zu folgen, von der Landeplattform auf dem Dach des Gebäudes – 1000. Ebene – abwärts bis zur breiten Hüfte des Gebäudes. Von diesem Fenster aus kann sie nicht weiter als bis etwa zur 400. Ebene des benachbarten Bauwerks hinabsehen.
Wie mag das sein, fragt sie sich, in Urbmon 117 zu leben? Oder 115 oder 110 oder 140? Sie hat ihren Urbmon seit ihrer Geburt nicht verlassen. Rings um sie herum erstrecken sich die Türme der Chipitts-Gebäudekonstellation bis zum Horizont, fünfzig riesenhafte Zementblöcke, jeder drei Kilometer hoch, jeder für sich eine selbständige Einheit, die 800.000 Menschen beherbergt. In Urbmon 117, sagt sich Aurea, gibt es Leute, die genau wie wir aussehen. Sie gehen umher, sie reden, ziehen sich an, denken nach, lieben sich – wie wir selbst. Urbmon 117 ist keine andere Welt. Es ist einfach nur das Gebäude nebenan. Wir sind nicht einmalig. Wir sind nicht einmalig. Wir sind nicht einmalig.
Furcht legt sich wie ein erdrückender Mantel über sie.
»Memnon«, sagt sie verzweifelt. »Wenn die Zeit der Aussiedlung kommt, dann werden sie uns nach Urbmon 158 senden.«
Siegmund Klüver gehört zu den Glücklichen. Seine Fruchtbarkeit räumt ihm einen Platz in Urbmon 116 ein, der ihm nicht wieder genommen werden kann. Sein Status ist gesichert.
Obwohl er erst vierzehn geworden ist, ist Siegmund bereits Vater zweier Kinder. Sein Sohn heißt Janus, und seine neugeborene Tochter hat den Namen Persephone erhalten. Siegmund lebt in einem netten 50-Quadratmeter-Heim in der 787. Etage, die sich in der oberen Hälfte von Schanghai befindet. Sein Spezialgebiet ist die Theorie der urbanen Verwaltung, und trotz seiner Jugend verbringt er bereits einen großen Teil seiner Zeit als Berater der Administratoren in Louisville. Er ist nicht allzu groß, gut gewachsen, ziemlich stark, sein etwas groß wirkender Kopf trägt festes, lockiges Haar. Seine Kindheit hat er in Chikago verbracht, und er war einer von Memnons engsten Freunden. Sie sehen sich noch immer recht oft; die Tatsache, daß sie jetzt in verschiedenen Städten leben, behindert ihre Freundschaft nicht.
Soziale Begegnungen zwischen den Holstons und den Klüvers finden immer in Siegmunds Apartment statt. Die Klüvers kommen nie nach Chikago herab, um Aurea und Memnon zu besuchen. »Warum sollten wir vier in einem lauten Schlaf räum zusammensitzen«, fragt er, »wenn wir es uns in der privaten Atmosphäre meines Apartments bequem machen können?«
Aurea versteht das nicht. Urbmon-Bewohner sollten doch eigentlich nicht soviel Wert auf Privatheit legen. Ist der Schlafraum vielleicht ein Aufenthaltsort, der für Siegmund Klüver nicht gut genug ist?
Siegmund hat einmal im selben Schlafraum wie Aurea und Memnon gelebt. Das war vor zwei Jahren, als sie alle sich gerade neu vermählten. In diesen längst vergangenen Jahren hat sich Aurea auch einige Male Siegmund hingegeben. Sie mochte das. Aber Siegmunds Frau wurde schon sehr bald schwanger, wodurch sich die Klüvers für ein eigenes Apartment qualifizierten, und Siegmunds berufliches Fortkommen erlaubte es ihm, einen Raum in der Stadt Schanghai zu finden. Aurea hat ihre Schlafplattform nicht mehr mit Siegmund geteilt, seit er den gemeinschaftlichen Schlafraum verlassen hat. Das macht sie ein wenig traurig, da sie Siegmunds Umarmungen sehr genossen hat, aber daran kann sie wenig ändern. Die Wahrscheinlichkeit, daß er als Nachtwandler zu ihr kommen wird, ist gering. Sexuelle Beziehungen zwischen Bewohnern verschiedener Städte werden zur Zeit als ungehörig betrachtet, und Siegmund hält sich streng an die Gebräuche. Er nachtwandelt vielleicht in Städten über seiner eigenen, aber er wird kaum nach weiter unten gehen.
Siegmund strebt offensichtlich höheren Dingen zu. Memnon meint, daß er mit siebzehn nicht nur ein Spezialist in der Theorie der urbanen Administration sein wird, sondern selbst
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