Ein glücklicher Tag im Jahr 2381
die an ihr vorgenommen werden. Wie viel mehr wird sie ertragen können? Soll sie zu Tode geprügelt werden? Soll sie ihr Ungeborenes verlieren, während die anderen zusehen? Derart schreckliche Dinge hat er sich früher nicht einmal vorstellen können. Er spürt die Schläge, als würden sie seinen eigenen Körper treffen. Wenn er könnte, würde er diese Leute mit tödlichen Blitzen niederschmettern. Haben sie keine Ehrfurcht vor dem Leben? Diese Frau sollte ihnen heilig sein, und statt dessen wird sie von ihnen gequält.
Er sieht, wie sie völlig unter einer Horde von schreienden Angreifern verschwindet.
Als sie sich eine oder zwei Minuten später wieder abwenden, kniet die Frau halb bewußtlos da, dem Zusammenbruch nahe. Ihre Lippen zucken, ihre ganzer Körper bebt. Ihr Kopf hängt nach vorn. Ihre linke Brust ist mit blutigen Kratzspuren bedeckt. Das Gesicht ist verschwollen, ihr ganzer geschundener Körper starrt vor Schmutz.
Die Musik wird plötzlich merkwürdig weich, als würde man sich bald einem Höhepunkt nähern, für den erst noch einmal Schwung geholt werden muß. Jetzt werde ich an die Reihe kommen, denkt Michael. Jetzt soll ich sie umbringen oder sie nehmen oder ihr in den Bauch treten oder Gott weiß was. Aber niemand wirft auch nur einen Blick zu dem Gebäude, in dem er gefangengehalten wird. Die drei Priester singen im Chor; die Musik gewinnt allmählich an Intensität; die Dorfbewohner ziehen sich zurück, sammeln sich am Rand des Dorfplatzes. Und die Frau erhebt sich, wankend, unsicher. Sieht auf ihren blutenden und geschundenen Körper hinab. Ihr Gesicht ist leer; sie ist jenseits von Schmerzen, jenseits von Scham, jenseits von Furcht. Langsam geht sie auf das Feuer zu, stolpert, fängt sich wieder, bleibt aufrecht stehen. Sie ist jetzt am Rand des Feuers angekommen, fast in Reichweite der hochlodernden Flammenzungen. Die Musik ist mittlerweile zu einer ohrenbetäubenden Lautstärke angeschwollen. Die Priester stehen schweigend und reglos da. Das ist offenbar der große Augenblick. Springt sie jetzt in die Flammen?
Nein. Sie hebt die Arme. Hält die Weizenähren gegen das strahlend helle Feuer. Wirft sie hinein: ein kurzes Aufflammen, und sie sind verbrannt. Ein gewaltiger Aufschrei von den Dorfbewohnern. Die Musiker schlagen einen ohrenbetäubenden Mißton an. Die nackte Frau stolpert von dem Feuer weg, zitternd, erschöpft. Fällt seitlich zu Boden, bleibt schluchzend liegen. Die Priester und Priesterinnen entschwinden mit steifen, feierlichen Schritten in die Dunkelheit. Die Ansammlung der Dorfbewohner löst sich zusehends auf, und nur die Frau bleibt zurück. Ein Mann geht auf sie zu, eine große, bärtige Gestalt; Michael erinnert sich, ihn inmitten des auf sie einschlagenden Mobs gesehen zu haben. Er hebt sie jetzt hoch, zieht sie zärtlich an sich heran. Küßt ihre zerkratzte Brust. Er streicht mit seiner Hand leicht über ihren Bauch, als ob er sich versichern wolle, daß dem Kind nichts geschehen ist. Sie hält sich an ihm fest. Er redet leise und eindringlich auf sie ein; Michael vernimmt die fremdartigen Laute nur bruchstückhaft. Sie antwortet stammelnd, mit einer sich überschlagenden Stimme. Trotz ihres wohl nicht geringen Gewichts hebt er sie auf und trägt sie langsam auf den Armen weg, auf eins der gegenüberliegenden Gebäude zu. Alles ist jetzt still, nur das allmählich in sich zusammenfallende Feuer gibt noch gelegentlich knackende Geräusche von sich. Nachdem eine Zeitlang nichts mehr geschehen ist, wendet sich Michael vom Fenster ab und wirft sich auf seine Decken. Er ist wie vor den Kopf geschlagen. Schweigen und Dunkelheit umfangen ihn. Bilder der bizarren Zeremonie rasen durch sein Bewußtsein. Es wird ihm heiß und kalt; er zittert; er spürt, daß er den Tränen nahe ist. Endlich kommt der Schlaf über ihn.
Er erwacht mit der Ankunft des Frühstücks. Er untersucht das Tablett einige Minuten lang, bevor er sich aufzustehen zwingt. Die gestrigen Anstrengungen haben einen gehörigen Muskelkater hinterlassen. Er schleppt sich zum Fenster: ein Haufen Asche, wo das Feuer war, die Dorfbewohner gehen bereits ihrem Tagwerk nach, die Landwirtschaftsmaschinen streben auf die Felder zu. Er spritzt Wasser in sein Gesicht, entleert sich, sieht sich automatisch nach dem Reiniger um, und da er ihn nirgends finden kann, fragt er sich, wie er die auf seiner Haut sich bildende Schmutzkruste wird ertragen können. Es ist ihm noch nie bewußt geworden, wie sehr ihm die Gewohnheit in
Weitere Kostenlose Bücher