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Ein Gott der keiner war (German Edition)

Ein Gott der keiner war (German Edition)

Titel: Ein Gott der keiner war (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: André Gide , Arthur Koestler , Ignazio Silone
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Gewissen. Aber gerade weil dieser Konflikt einen so intimen Charakter hatte, wurde auch der Glaube, der aus ihm erwuchs, zu einem ureigensten Teil meiner selbst. Es dauerte mehrere Jahre, bis er sich zu einem politischen Bekenntnis verdichtete; zunächst war es nichts weiter als sentimentale Gefühlsduselei. Jede Berührung mit Menschen, die ärmer waren als ich, wurde mir unerträglich. Der Junge in der Schule, der keine Handschuhe hatte und dessen Finger mit roten Frostbeulen bedeckt waren, der frühere Kommis meines Vaters, der in seiner Not gelegentlich um eine Mahlzeit betteln kam, sie alle machten die mich bedrückende Gewissenslast noch schwerer. Ein Psychoanalytiker würde mühelos nachweisen, daß die Wurzeln dieses Schuldkomplexes tiefer reichten als die Krise unserer häuslichen Wirtschaftslage. Könnte er indessen noch um eine Stufe tiefer dringen, so würde er, jenseits der individuellen Schicht des besonderen Falles, auf den archetypischen Verhalt stoßen, aus dem sich Millionen verschiedener Variationen zum gleichen Thema entwickelt haben. – „Wehe denen, die da leiern zum Klang der Harfe und sich salben mit dem besten Öl, aber sich nicht grämen um den Schaden des Volkes."
    Nachdem mir auf diese Weise ein persönlicher Konflikt die Sinne geschärft hatte, war ich reif für die erschütternde Entdeckung, daß Weizen verbrannt und Obst vorsätzlich vernichtet wurde und daß Schweine ertränkt wurden, damit in den Jahren der Krise die Preise stabil blieben und fette Kapitalisten weiterhin zu den Klängen der Harfen singen konnten, während Europa unter dem Gedröhn der Hungermärsche erzitterte und mein Vater seine abgeschabten Manschetten unter dem Tisch verbarg. Diese abgeschabten Manschetten waren der Zunder und die ertränkten Schweine waren sozusagen der Docht, die das archetypische Erlebnis zur Explosion brachten. Man sang die „Internationale", aber es hätten ebensogut die älteren Worte sein können: „Wehe den Hirten, die sich selbst geweidet haben, sollten nicht die Hirten die Schafe weiden."
     
     
    Auflösung des Mittelstandes
     
    Auch in anderer Hinsicht ist diese Geschichte typischer, als es den Anschein hat. Ein beträchtlicher Teil des Mittelstandes war, wie wir selber, durch die Inflation der zwanziger Jahre ruiniert worden. Es war dies der Anfang vom Untergang Europas. Durch die Auflösung der mittleren Gesellschaftsschichten kam der unheilvolle Polarisationsprozeß in Gang, der bis auf den heutigen Tag angehalten hat. Die verarmten mittleren Stände wurden zu Rebellen der Rechten oder der Linken, eine soziale Völkerwanderung, aus der Schickelgruber und Dschugaschwili zu ungefähr gleichen Teilen profitierten. Diejenigen, die ihren Absturz nicht zugeben wollten und sich an das Phantom einer versunkenen Epoche klammerten, gingen zu den Nationalsozialisten und trösteten sich, indem sie Versailles und die Juden für ihr Schicksal verantwortlich machten. Vielen war nicht einmal dieser Trost vergönnt; sie hatten jeden Daseinszweck verloren und krochen wie ein großer schwarzer Schwarm müder Winterfliegen ziellos auf den trüben Fensterscheiben Europas umher.
    Die andere Hälfte wandte sich nach links und bestätigte damit die Prophezeiung des Kommunistischen Manifests:
„Ganze Bestandteile der herrschenden Klasse werden in das Proletariat hinabgeworfen oder wenigstens in ihren Lebensbedingungen bedroht. Sie führen dem Proletariat eine Menge Bildungselemente zu."
    Zu diesen „Bildungselementen" gehörte, wie mir zu meiner Begeisterung klar wurde, auch ich. Solange ich dicht am Verhungern gewesen war, hatte ich mich als einen zeitweilig aus der Bahn geratenen Abkömmling des Bürgertums betrachtet. Als ich aber im Jahre 1931 endlich ein ausreichendes Einkommen gefunden hatte, fand ich es an der Zeit, mich dem Proletariat anzuschließen. Doch die Ironie dieses Zusammenhanges wurde mir erst später bewußt.
„Die Familie der Bourgeois fällt natürlich weg ... mit dem Verschwinden des Kapitals ... Die bürgerlichen Redensarten über Familie und Erziehung, über das traute Verhältnis von Eltern und Kindern werden um so ekelhafter, je mehr infolge der großen Industrie alle Familienbande für die Proletarier zerrissen ... werden."
    Soweit das Kommunistische Manifest. Jede Seite aus dem Werk von Marx und mehr noch aus dem von Engels brachte mir damals neue Enthüllungen und ein geistiges Entzücken, wie ich es bis dahin nur ein einziges Mal, bei meiner ersten Berührung mit Freud,

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