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Ein Gott der keiner war (German Edition)

Ein Gott der keiner war (German Edition)

Titel: Ein Gott der keiner war (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: André Gide , Arthur Koestler , Ignazio Silone
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empfunden hatte. Aus dem Zusammenhang gerissen, klingt das obige Zitat lächerlich; als Teil eines geschlossenen Systems hingegen, das die Sozialphilosophie sich nach einem klaren und verständlichen Schema ordnen läßt, hatte der Nachweis der historischen Realität von Institutionen und Idealen – Familie, Klasse, Patriotismus, bürgerlicher Moral, sexueller Tabus – die berauschende Wirkung einer plötzlichen Befreiung von den rostigen Fesseln, in die eine mittelständische Vorweltkriegskindheit den Geist geschlagen hatte. Heute, wo die marxistische Philosophie in einen byzantinischen Kult entartet und jeder einzelne Grundsatz des marxistischen Programms in sein Gegenteil verdreht worden ist, lassen sich jene leidenschaftlichen Gefühle und geistigen Rauschzustände kaum noch nachempfinden.
    Ich war zu dieser Bekehrung reif, weil mein persönliches Schicksal mich darauf vorbereitet hatte, wie Tausende von anderen Angehörigen der Intelligenz und des Mittelstandes durch ihr persönliches Schicksal dafür reif gemacht worden waren; so weitgehend sich diese Schicksale aber auch von Fall zu Fall unterschieden, sie hatten alle einen gemeinsamen Nenner: den schnellen Verfall der moralischen Werte und des alten Lebensstiles im Nachweltkriegseuropa und die gleichzeitige Lockung der neuen Heilsbotschaft aus dem Osten.
     
     
    Das „Rote Jahrzehnt"
     
    Ich trat der Partei, die für uns ehemaligen Kommunisten bis zum heutigen Tag „die" Partei geblieben ist, im Jahre 1931 bei, zu Beginn jener kurzlebigen Periode des Optimismus, jener mißlungenen geistigen Renaissance, die später unter der Bezeichnung „Rotes Jahrzehnt" bekannt war. Die strahlendsten Erscheinungen dieser trügerischen Morgenröte waren Barbusse, Romain Rolland, Gide und Malraux in Frankreich, Piscator, Becher, Renn, Brecht, Eisler und Anna Seghers in Deutschland; Auden, Isherwood und Spender in England; Dos Passos, Upton Sinclair und Steinbeck in den Vereinigten Staaten. Die kulturelle Atmosphäre war gesättigt mit Kongressen von revolutionären Schriftstellern, mit Experimentalbühnen, mit Komitees gegen Krieg und Faschismus, mit Gesellschaften für kulturelle Beziehungen mit der Sowjetunion, mit russischen Filmen und Avantgardezeitschriften. Es sah tatsächlich aus, als wäre die westliche Welt unter den Nachwehen des Krieges, unter der Geißel von Inflation, Krise, Arbeitslosigkeit und dem Mangel eines Glaubens, für den zu leben sich verlohnte, endlich im Begriffe, den langersehnten Marsch anzutreten: „Brüder zur Sonne, zur Freiheit – Brüder, zur Sonne, zum Licht." Der neue Stern von Bethlehem war im Osten aufgegangen, und für ein bescheidenes Eintrittsgeld war „Intourist" bereit, den Pilger einen kurzen und gut gelenkten Blick in das gelobte Land werfen zu lassen.
    Ich lebte damals in Berlin. Während der vorhergehenden fünf Jahre hatte ich für die Zeitungen des Ullstein-Verlages gearbeitet, zunächst als Auslandskorrespondent im Mittleren Osten, dann in Paris. Schließlich, im Jahre 1930, wurde ich von Paris zum Redaktionsstab des Berliner „Hauses" berufen. Zum besseren Verständnis des Folgenden müssen hier einige Worte über den damaligen Verlag Ullstein, ein Symbol der Weimarer Republik, gesagt werden.
    Der Ullstein-Verlag war eine Art Supertrust, die größte Organisation dieser Art in Europa und wahrscheinlich in der ganzen Welt. Er gab allein in Berlin vier Tageszeitungen heraus, darunter die im achtzehnten Jahrhundert gegründete ehrwürdige Vossische Zeitung und die B.Z. am Mittag , ein Blatt, das mit seiner Auflage und dem Tempo seiner Nachrichtenvermittlung einen journalistischen Rekord aufgestellt hatte. Daneben veröffentlichte das Ullstein-Haus mehr als ein Dutzend Wochen- und Monatszeitschriften, unterhielt einen eigenen Nachrichtendienst, ein eigenes Reisebüro, und gehörte zu den führenden Buchverlagen. Die Firma gehörte den fünf Gebrüdern Ullstein – sie waren fünf, wie die ersten Gebrüder Rothschild, und wie diese jüdischer Abstammung. Ihre Politik war liberal und in kulturellen Fragen fortschrittlich bis zum Avantgardismus. Sie dachten antimilitaristisch und antichauvinistisch; und es war zum großen Teile ihrem Einfluß auf die öffentliche Meinung zu verdanken, daß die Politik der deutsch-französischen Annäherung der Briand-Stresemann-Ara in den fortschrittlichen Kreisen des deutschen Volkes ein positives Echo fand. Das Haus Ullstein stellte nicht nur einen politischen Machtfaktor dar, es war

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