Ein Gott der keiner war (German Edition)
Disziplin verbinde. Er forderte keine radikalen Änderungen mehr. Während des Krieges schrieb er in seinen „Interviews Imaginaires", die Kultur müsse zugrunde gehen, wenn sie allein von denen abhänge, die revolutionäre Theorien in die Welt setzten. Die Kultur bedürfe für ihr Fortbestehen einer ununterbrochenen, sich stetig entwickelnden Tradition. In seinem neuesten Werk „Thome" zeigt Gide, wie eine starke, entschlossene und mutige Persönlichkeit unversehrt aus den Irrgängen des Labyrinths herausfindet, nur weil sie den Faden, der sie mit der Vergangenheit verbindet, keinen Augenblick aus der Hand gelassen hat.
Es ist interessant zu sehen, wie die Grundkonzeption des Buches sich in den dreißig Jahren, die zwischen dem ersten Entwurf und der Vollendung liegen, gewandelt hat. Ursprünglich stellte sich ihm der Vorgang so dar, als zerre Ariadne Theseus mit dem Faden, der ihn an sie bindet, zu seiner Vergangenheit zurück, zu seinem Ausgangspunkt, zu den Frauen, die für das Vorwärtsstreben des Mannes immer und überall ein Hemmnis sind. Nach seiner späteren Auffassung schützte Theseus im Labyrinth der Ariadnefaden seiner inneren Treue. Und in der letzten Version zeigt der Dichter, daß Theseus aus den Irrgängen nur herausfinden konnte, weil er das Band, welches ihn mit der Vergangenheit verknüpft, das Band der Tradition, nicht losgelassen hat. Dädalos sagt zu Theseus, als dieser sich auf den Weg macht: „Geh zurück zu ihr (zu Ariadne, in der sich die Tradition versinnbildlicht) oder alles – und das Beste – ist verloren. Dieser Faden verbindet dich mit der Vergangenheit. Kehre zurück zu dieser Vergangenheit! Kehre zurück zu dir selbst! Denn nichts kann aus dem Nichts entstehen. Aus deiner Vergangenheit und aus dem, was du heute bist, muß sich entwickeln, was du in Zukunft sein wirst."
Zu derselben Auffassung bekannte sich Gide in dem Vortrag, den er 1947 in Oxford zum Gedenken von James Bryce hielt. Sein Ausgangspunkt war die Stelle aus Vergil, in welcher der Dichter schildert, wie Aneas mit seinem alten Vater auf dem Rücken aus dem brennenden Troja flüchtet. Diese Zeilen seien symbolisch zu deuten: Aneas trage nicht allein seinen Vater auf den Schultern, sondern mit ihm das ganze Gewicht seiner Vergangenheit. In gleicher Weise flüchteten wir jetzt aus der brennenden Stadt unserer Zivilisation, mit der schweren Last unserer christlichen Vergangenheit, mit unserer christlichen Kultur, die auf der heiligen Unantastbarkeit jeder einzelnen menschlichen Seele gründet, und an uns sei es, dafür zu sorgen, daß sie nicht untergehe. Er sei sich darüber klar, sagte Gide, daß Kulturen, ebenso wie sie entstünden, wieder vergingen, aber er glaube nicht, daß die unsere zum Untergang verdammt sei, solange wir die Verantwortung für die uns durch Tradition und Vergangenheit auferlegte heilige Last willig auf uns nähmen Wenn auch die Feste der europäischen Kultur in Flammen stehe, könnten wir das, was an dieser Kultur wesentlich und kostbar sei, doch retten. Gide bekannte sich als unverbesserlicher Individualist, der mit aller Energie dagegen protestierte, daß die persönliche Verantwortung durch eine organisierte Autorität, diese für unser Zeitalter so charakteristische Flucht vor der Freiheit, aufgehoben wird. Er bekundete seinen Abscheu vor den modernen Losungen, vor einer irgendeinem Glauben oder einer Ideologie verhafteten „littérature engagée", vor all den „ismen", die eines Tages verschwinden würden, wie sie bisher noch immer verschwunden seien, um der Nachwelt lediglich die großen Einzelerscheinungen zu hinterlassen.
So sprach André Gide im Jahre 1947. Fünfzehn Jahre früher, zu einer Zeit also, als er sich noch für den Kommunismus einsetzte, schrieb er in sein „Tagebuch":
„Meine Bekehrung hat etwas Religiöses. Mein ganzes Sein, all mein Sinnen und Trachten ist auf ein einziges Ziel gerichtet; jeder Gedanke, selbst der unfreiwilligste, lenkt mich darauf hin. Die Sowjetunion scheint mir den Weg zur Erlösung aus dem jammervollen Elend zu weisen, in dem sich die heutige Welt befindet Alles bestärkt mich in dieser Überzeugung. Die erbärmlichen Argumente meiner Gegner können mich niemals umstimmen, sie empören mich. Und wenn der Sieg der Sowjetunion von meinem Leben abhingegern und auf der Stelle gäbe ich es dahin. Ich schreibe dies nieder mit kühlem, klarem Kopf, in voller Aufrichtigkeit, aus dem lebhaften Bedürfnis heraus, wenigstens dieses Zeugnis zu
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