Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Gott der keiner war (German Edition)

Ein Gott der keiner war (German Edition)

Titel: Ein Gott der keiner war (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: André Gide , Arthur Koestler , Ignazio Silone
Vom Netzwerk:
Rettungsboot zu gelangen, mit dem sich eine Anzahl Personen in Sicherheit bringen konnte. Hätte man in das Boot mehr Menschen aufgenommen, wäre es gekentert und untergegangen. Darum hätten diejenigen, die an Bord waren, den anderen, die sich auf beiden Seiten an den Bootsrand klammerten und verzweifelte Anstrengungen machten, aus dem Wasser herauszukommen, mit Messern und Axten die Hände abgehackt. – Sehen Sie, dieses Bewußtsein, zu denen zu gehören, die sicher im Rettungsboot sitzen, während andere um mich her ertrinken, kann ich nicht ertragen. Die Leute diskutieren mit mir, und ich verstehe mich nicht darauf, ihnen mit ähnlicher Spitzfindigkeit zu antworten. So halte ich ihnen nur immer wieder entgegen, daß ich mich unmöglich in ein Rettungsboot setzen kann, in dem nur eine begrenzte Anzahl von Menschen Platz findet. Es wäre vielleicht weniger schlimm, wenn ich genau wüßte, daß es die Besten sind, die gerettet werden sollen. Aber wenn man mir sagt: ‚Worüber halten Sie sich eigentlich auf? Sie müssen doch zugeben, daß es im Rettungsboot ganz behaglich ist!' – dann packt mich die Empörung."
     
    Gide begann sich seines Vermögens zu schämen, er empfand es als Schande, daß er es niemals nötig gehabt hatte, sich von seiner Hände Arbeit zu ernähren, nie gezwungen gewesen war, im Schweiße seines Angesichts sein Brot zu verdienen. All das verursachte ihm jetzt Minderwertigkeitsgefühle. Im Vertrauen, daß die Sowjetunion imstande sein werde, die edelsten Früchte der Kultur hervorzubringen, ohne den Geist zu versklaven, ohne eine bestimmte Gesellschaftsklasse zur Knechtschaft herabzuwürdigen und ohne irgend jemand die Wohltaten der Kultur vorzuenthalten, ging er nach Sowjetrußland. Er verhehlte sich nicht, daß man in der Welt, der er entgegenstrebte, vielleicht vieles an sich Gute und Wertvolle würde opfern müssen. Er sah ein, daß man um vorübergehender sozialer und materieller Vorteile willen eine Zeitlang auf sittliche und künstlerische Maßstäbe verzichten mußte. Er sagte sich, daß der Mensch moralisch und geistig vielleicht erst dann auf eine wirklich höhere Stufe gelangen könne, wenn die sozialen Mißstände abgestellt seien und das ganze gesellschaftliche System sich von Grund auf gewandelt habe. Er, der bis dahin allem, was den Geruch des Orthodoxen an sich hatte, aus dem Wege gegangen war, war jetzt bereit, die marxistische Orthodoxie vorübergehend hinzunehmen, obwohl er sich völlig im klaren darüber war, daß sie genau so gefährlich werden konnte wie jeder andere dogmatische Glaube, dem man sich allzulange und zu ernsthaft ergab. Er vertrat damals sogar den Standpunkt, daß es sich lohne, diese Gefahr in Kauf zu nehmen, wenn bewiesen werden könne, daß die marxistische Lehre zur Errichtung und Sicherung der neuen Gesellschaftsordnung nützlich und vielleicht unerläßlich sei. „Unter Umständen ist es sogar richtig", sagte er, „daß man, um dieses Ziel zu erreichen, auch ein paar Kunstwerke preisgibt." Allerdings mußte er später erkennen, daß der Preis, den er zu zahlen bereit gewesen war, zu hoch war. 1938 konnte er zwischen dem, was in Italien mit Riesenlettern auf den Mauern und Hauswänden geschrieben stand, und dem, was er zuvor in Rußland gesehen und gehört hatte, keinen Unterschied mehr entdecken. Es waren die gleichen Schlagworte: „Glaubt, gehorcht und kämpft!" – „Diese italienischen Parolen könnten ebensogut an den Häuserwänden Moskaus stehen", schrieb er in sein „Tagebuch". „Der kommunistische Geist hat aufgehört, das Gegenteil des faschistischen Geistes zu sein, ja er unterscheidet sich nicht einmal mehr von ihm." Er kam schließlich zu der Überzeugung, daß der sowjetische Traum von einem totalitären Staat eine beängstigende Utopie sei, in der die geknechteten Minderheiten nicht mehr zu Wort kommen und – noch schlimmer – alle dasselbe denken. „Wenn der ganze Chor unisono singt, kann von Harmonie nicht mehr die Rede sein."
    Gides Auffassung vom Wesen der Individualität und der Freiheit zeigte sich nach dem zweiten Weltkriege in einer neuen Entwicklungsphase; er hatte sich sowohl von dem totalen, jede Verantwortung zurückweisenden Freiheitsideal seiner Jugend wie auch von der seine mittleren Jahre beherrschenden These von der „liberté serviable" gelöst. Er vertrat jetzt die Meinung, daß absolute Freiheit das Individuum und auch die Gesellschaft vernichten müsse, sofern sie sich nicht aufs engste mit Tradition und

Weitere Kostenlose Bücher