Ein Gott der keiner war (German Edition)
Tiefen des russischen Volkes aufwühlte, da sagte man im Westen (und glaubte es sogar), diese gewaltige Grundwelle drohe die Kultur zu überfluten. War denn nicht alle Kultur in Gefahr, sobald sie aufhörte, ein Privilegium der wenigen zu sein?
Zur Antwort auf diese Frage haben Schriftsteller aus allen Ländern sich zusammengefunden im klaren Bewußtsein einer dringenden Pflicht: Ja, die Kultur ist bedroht; aber diese Gefährdung kommt nicht von den Parteien, die alle Freiheit zu brechen und den Geist selbst unter den Scheffel zu stellen versuchen ... Bedroht ist die Kultur im Kriege: dem notgedrungenen, dem unvermeidlichen Ergebnis nationalistischen Hasses ... Es sind die großen internationalen, revolutionären Kräfte, denen die Sorge und Pflicht zur Verteidigung, Bewahrung, Erneuerung der Kultur obliegt. Das Schicksal der Kultur ist in unseren Sinnen geknüpft an das Schicksal der UdSSR selbst. Wir werden sie verteidigen."
Diese Rede hielt ich, wie gesagt, ganz zu Anfang meiner Rußlandreise, zu einer Zeit, als ich noch glaubte – besser sollte ich sagen: als ich noch naiv genug war zu glauben —, man könne mit den Russen ernsthaft über Kulturfragen diskutieren. Ich wünschte von ganzer Seele, dieser Glaube wäre nie in mir zerstört worden. Aber da ich mich nun einmal geirrt hatte, mußte ich meinen Irrtum so früh wie möglich eingestehen; ich schuldete es all denen daheim, für die ich mich verantwortlich fühlte, und die durch meine Ansichten in die Irre geführt werden konnten. Persönlicher Stolz – ich besitze an sich wenig davon – durfte mich nicht an einem offenen Bekenntnis hindern; es gibt Dinge, die wichtiger sind als ich selbst und mein Stolz, wichtiger auch als die Sowjetunion. Die Zukunft der Menschheit und das Schicksal ihrer Kultur stehen auf dem Spiel.
Solange meine Rußlandreise nach einem bestimmten Plan verlief, fand ich alles herrlich. Wenn ich mit der arbeitenden Bevölkerung zusammenkam, in ihren Werkstätten, ihren Fabriken, ihren Erholungsstätten, empfand ich häufig eine tiefe, ehrliche Freude. Nirgendwo auf der Welt sind menschliche Bindungen so schnell und mühelos zu knüpfen wie in Rußland, nirgendwo sonst sind sie so warm, echt und tief. Oft genügt ein einziger Blick, um eine Freundschaft entstehen zu lassen, ein flüchtiger Augenblick kann dauernde Bande der Sympathie schaffen. Es ist meine ehrliche Überzeugung, daß man dieses spontane Gefühl von Mensch zu Mensch, diese warme brüderliche Zuneigung in solcher Intensität und Unmittelbarkeit überhaupt nur in Rußland erleben kann. Mir schwoll das Herz, und im Übermaß der Freude traten mir bisweilen Tränen in die Augen – Tränen der Liebe und der innigsten Verbundenheit. Die Kinder, die ich in den Erholungslagern zu Gesicht bekam, waren gut genährt und in jeder Beziehung gut versorgt. Man umgab sie mit Liebe, und sie machten alle einen glücklichen Eindruck. Ihre Augen blickten klar und voller Vertrauen in die Welt. Den gleichen Widerschein strahlenden Glücks sah ich auf den Gesichtern der Arbeiter in den Erholungsstätten, in denen sie sich abends nach getaner Arbeit treffen. Jede Stadt in der Sowjetunion hat heute ihr Erholungszentrum und ihren Kindergarten. Wie viele andere Besucher sah ich Musterbetriebe, Klubs und Vergnügungsplätze, über die ich staunte. Ich wollte ja alles so von Herzen gern bewundern und hatte keinen sehnlicheren Wunsch als den, andere zu bekehren. Und da es kaum ein angenehmeres Erlebnis gibt, als begeistert zu sein und aus dem Gefühl des Enthusiasmus heraus andere zu überzeugen, müssen es schon schwerwiegende Gründe sein, die mich heute veranlassen, öffentlich gegen diese Verzauberung anzugehen.
Erst nachdem ich die vorgesehene Reiseroute und meine Begleitung verlassen hatte, um in direkte Berührung mit dem Volke zu gelangen, begann ich klarer zu sehen. Ich hatte die marxistische Literatur zu intensiv studiert, um mich in Sowjetrußland wie ein Fisch auf dem Trockenen zu fühlen. Und da ich auch zahllose idyllische Reiseberichte und enthusiastische Apologien über Sowjetrußland gelesen hatte, nahm ich anfänglich alle Lobpreisungen, die ich an Ort und Stelle zu hören bekam, für bare Münze. Alle gegenteiligen und abfälligen Äußerungen, alles, was mich über die wahren Verhältnisse in Sowjetrußland hätte aufklären können, ging an meinem Ohr vorüber, weil es nach Ressentiment klang. Nur zu häufig wollen die Freunde der Sowjetunion einfach keine schlechten Seiten
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