Ein Gott der keiner war (German Edition)
die richtige Instanz weiterzuleiten versprach. An jenem Abend wurden auf dem üblichen pompösen Bankett wie immer viele Reden gehalten und zahllose Trinksprüche ausgebracht. Nachdem wir auf die Gesundheit sämtlicher Gastgeber und Gäste angestoßen hatten, erhob sich mein Reisegefährte Jef Last und brachte in russischer Sprache einen Toast auf den Sieg der Roten Sache an der spanischen Front aus. Die Gesellschaft klatschte leicht verwirrt Beifall, der mir nicht von Herzen zu kommen schien, und dann antwortete einer nach dem anderen mit Trinksprüchen auf Stalin. Als die Reihe an mich kam, erhob ich mein Glas und trank auf die politischen Häftlinge in Deutschland. Diesmal applaudierten alle geräuschvoll und mit unverkennbar echter Begeisterung – worauf sich wiederum ein Toast auf Stalin anschloß. Alle Anwesenden wußten, was und wie sie über die Opfer des Faschismus in Deutschland zu denken und welche Haltung sie dazu einzunehmen hatten. In der spanischen Frage hingegen hatte die Prawda noch keine offizielle Erklärung abgegeben, und niemand wagte von sich aus Beifall zu äußern, der nicht ausdrücklich befohlen und vielleicht nicht genehm war. Wenige Tage später – unsere Reisegesellschaft war inzwischen in Sebastopol eingetroffen – stieg vom Roten Platz in Moskau eine ungeheure, den roten Spanienkämpfern geltende Woge der Sympathie auf und lief, von der Prawda ausgehend und von ihr gelenkt, durch ganz Rußland. Das Denken der Russen ist heute so vorzüglich „ausgerichtet", daß ihnen die konforme Reaktion keine Schwierigkeiten mehr macht; sie ist ihnen zur zweiten Natur geworden. Daß Heuchelei dabei im Spiel sein könnte, glaube ich nicht Wenn man mit einem Sowjetbürger gesprochen hat, ist es, als hätte man mit allen gesprochen.
Die Beseitigung des Kapitalismus hat den sowjetischen Arbeitern nicht die ersehnte Freiheit gebracht; es ist von größter Wichtigkeit, daß das Proletariat des Auslandes diese Tatsache klar erkennt. Freilich werden die Arbeiter nicht mehr von kapitalistischen Aktionären ausgebeutet. Die Ausbeutung hat jetzt eine so indirekte, so undurchsichtige und hinterlistige Form angenommen, daß die Arbeiter nicht wissen, wen sie dafür verantwortlich machen sollen. Der größte Teil von ihnen lebt mehr als armselig, und weil sie Hungerlöhne bekommen, können die Vorzugsarbeiter – die geschmeidigen Jasager – dicke Lohntüten einstecken. Man muß entsetzt sein, wenn man sieht, mit welcher Gleichgültigkeit die großen und kleinen Machthaber ihre Untergebenen behandeln, und die Kriecherei und Unterwürfigkeit, die das Charakteristikum der anderen – fast hätte ich gesagt: der Armen – ist. Wohl gibt es in der Sowjetunion keine Klassen und keine Klassenunterschiede mehr, aber es gibt noch immer Arme – viel zu viele noch. Ich habe gehofft, im Staate der Sowjets keinem einzigen armen Menschen mehr zu begegnen. Genauer gesagt: ich war hauptsächlich deswegen nach der Sowjetunion gegangen, um keinen Armen mehr zu begegnen. Ich mußte dann nicht nur die traurige Erfahrung machen, daß es nach wie vor arme Leute in Rußland gibt – ich mußte feststellen, daß man dort sogar die Nase rümpft über die Armut, als sei sie etwas Unanständiges oder gar ein Verbrechen. Sie ruft nicht Mitleid oder Nächstenliebe wach, sie ist lediglich Gegenstand der Verachtung. Dabei verdanken die Hochmütigen, die auf das Elend hinuntersehen, ihren Wohlstand gerade dieser grenzenlosen Armut. Nicht daß ich gegen eine Lohndifferenzierung etwas einzuwenden hätte – ich sehe ein, daß sie notwendig und unvermeidlich ist. Aber ich meine, es müßte einen Weg geben, da, wo die Kluft zu groß, zu erschreckend wird, zu mildern und auszugleichen. Ich befürchte, daß das, was ich in Sowjetrußland gesehen und erlebt habe, auf eine satte und deshalb konservative Arbeiterbourgeoisie hinauslaufen könnte, die dem Spießertum bei uns daheim für meinen Geschmack nur allzu ähnlich sehen würde. Ich glaube schon jetzt die Symptome zu erkennen. Obwohl es in Rußland eine Revolution gegeben hat, liegen die bürgerlichen Schwächen und Laster in vielen noch immer auf der Lauer. Der Mensch läßt sich durch Einflüsse von außen nicht völlig ummodeln. Sein Herz muß sich wandeln. Mit großer Unruhe beobachte ich, wie man in der Sowjetunion allen bürgerlichen Instinkten entgegenkommt, wie sich langsam wieder die alten Gesellschaftsschichten bilden. Wenn man es auch nicht gerade mit neuen sozialen Klassen zu tun
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