Ein Gott der keiner war (German Edition)
beunruhigender, verwirrender Plötzlichkeit ab. Vieles ist bereits vollbracht, was unsere Herzen mit Freude erfüllt, und gerade deswegen war ich wohl besonders anspruchsvoll. Zunächst hatte ich den Eindruck, als sei das Schwierigste schon überstanden, und ich war bereit, mit ganzer Seele zu dem Pakt zu stehen, den ich im Namen der leidenden Menschheit mit der Sowjetunion geschlossen hatte. Ich fühlte mich ihr in einem Maße verpflichtet, daß es ein Versagen einfach nicht geben durfte.
Was mich in Rußland ganz besonders anzog, war der ungeheure Bildungs- und Kulturhunger, dem ich überall begegnete. Doch erfährt die Bevölkerung durch Erziehung und Unterricht nur das, was die gegenwärtigen Verhältnisse in der Sowjetunion in günstigstem Licht erscheinen läßt und was sie in dem Glauben bestärkt, daß das sowjetische System die einzige Hoffnung der Menschheit sei. In Sowjetrußland dient die Kultur nur einem einzigen Ziel: der Verherrlichung des Sowjetstaates. Sie ist parteigebunden, ein kritisches Unterscheidungsvermögen gibt es nicht. Ich weiß sehr wohl, daß man sich in der Sowjetunion darin gefällt, bei jeder Gelegenheit mit der sogenannten „Selbstkritik" aufzuwarten. Anfänglich glaubte ich sogar daran. Ich setzte meine ganze Hoffnung auf diese Methode, das eigene Denken und Handeln zu kontrollieren, überzeugt, daß sie, ehrlich geübt, herrliche Früchte tragen müsse. Aber bald entdeckte ich, daß diese sogenannte Selbstkritik in Sowjetrußland nichts anderes bedeutet als Aufklärung darüber, was im Sinne der Partei ist und was nicht. Es wird nicht etwa über die Richtigkeit der von der Partei verfolgten Politik diskutiert, sondern lediglich über die Frage, ob diese oder jene Theorie der geheiligten Parteilinie entspricht. Nichts ist gefährlicher als eine solche Geisteshaltung, und nichts kann wahrer Kultur abträglicher sein. Von dem, was außerhalb der russischen Landesgrenzen vor sich geht, erfahren die Sowjetbürger so gut wie nichts. Ja, schlimmer noch, man hat ihnen eingehämmert, daß nichts im Ausland an das heranreiche, was Sowjetrußland zu bieten hat. Bei aller Interesselosigkeit fremden Dingen und Angelegenheiten gegenüber liegt den Sowjets aber sehr daran zu erfahren, was man „draußen" von ihnen denkt. Sie möchten vor allem wissen, ob man sie im Ausland auch genügend bewundert. Ihre größte Angst ist die, daß die anderen über ihre Verdienste nicht genügend orientiert sein könnten; sie wollen vom Ausland nur gelobt, nicht informiert werden.
Während meines Rußlandaufenthalts besuchte ich auch ein Musterkollektiv. Es handelt sich uni eine der schönsten und ertragreichsten Kolchosen der Sowjetunion, und ich sah mir einige der Wohnhäuser von innen an. Ich wünschte, ich könnte meinen Lesern nur annähernd einen Begriff vermitteln von dem niederdrückenden Eindruck, den ausnahmslos alle diese Behausungen machen, weil ihnen jede persönliche Note fehlt. In jeder Wohnung stehen die gleichen häßlichen Möbel, hängt das gleiche Stalinbild. Ich sah nicht den geringsten Zimmerschmuck, keine privaten Besitztümer. Jedes Haus könnte mit einem beliebigen anderen des Kollektivs vertauscht werden, ohne daß die Insassen es bemerken würden. Selbstverständlich ist in einem Kollektiv auch das Vergnügen Gemeinschaftssache, die Häuser sind weiter nichts als Schlafstellen. Das ganze Lebensinteresse der Kollektivmitglieder konzentriert sich auf den Klub. Zweifellos kann dadurch, daß der einzelne seine Individualität opfert, daß jeder sich der Gemeinschaft anpaßt, die Gesamtheit leichter glücklich gemacht werden. Es fragt sich nur, ob man den Persönlichkeitsverlust, die Gleichschaltung, die Nivellierung, auf die in Sowjetrußland heute alles abzielt, als Fortschritt bezeichnen soll. Ich für meine Person kann darin keine Aufwärtsentwicklung sehen. In der Sowjetunion steht ein für allemal fest, daß es über jede Frage – ganz gleich, um was es sich handelt – nur eine Meinung geben kann: die richtige. Jeden Morgen trichtert die Prawda dem Volk ein, was es wissen, glauben und denken muß. Ich konnte damals, als ich die Sowjetunion bereiste, mit Erstaunen feststellen, daß die Zeitungen den spanischen Bürgerkrieg, der alle demokratischen Kreise in so starkem Maße beunruhigte, mit keinem Wort erwähnten. Ich sprach zu meinem Dolmetscher von dem schmerzlichen Befremden, das ich empfand, und sah, daß er verlegen wurde. Aber er dankte mir für meinen Hinweis, den er an
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