Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
weiß, womit es hätte enden können.«
Von den Nachbarinnen erzählte mir Wassin, sie wohnten seit etwa drei Wochen hier und seien irgendwoher aus der Provinz angereist; das Zimmer, das sie bewohnten, sei winzig, und an allem könne man sehen, daß sie sehr arm seien; daß sie immer zu Hause blieben und auf etwas warteten. Er hatte nicht gewußt, daß die Junge als Lehrerin annonciert habe, aber gehört, daß Werssilow sie aufgesucht hätte; das war während seiner Abwesenheit geschehen, und die Vermieterin hatte es ihm erzählt. Die Nachbarinnen dagegen gingen allen aus dem Weg, selbst der Vermieterin. In den allerletzten Tagen war sogar ihm aufgefallen, daß es bei ihnen tatsächlich nicht ganz geheuer war, aber solche Szenen wie heute waren bisher noch nicht vorgefallen. Diese ganze Unterhaltung über die Nachbarinnen erwähne ich im Hinblick auf das Folgende; bei den Nachbarinnen herrschte während dieser Zeit Totenstille. Wassin hörte mit besonderem Interesse, daß Stjebelkow es für notwendig gehalten hatte, mit der Vermieterin über die Nachbarinnen zu sprechen und sogar zweimal zu wiederholen: »Sie werden sehen, Sie werden sehen!«
»Und Sie werden sehen«, fügte Wassin hinzu, »daß er das nicht umsonst gesagt hat. Er hat in dieser Hinsicht ein scharfes Auge.«
»Also sollte man Ihrer Meinung nach der Vermieterin raten, die beiden auf die Straße zu setzen?«
»Nein, ich meine nicht, daß man sie auf die Straße setzen soll, ich hoffe nur, daß es nicht zu einer schlimmen Geschichte kommt … Übrigens, alle solche Geschichten nehmen ein Ende, so oder so.«
Er weigerte sich entschieden, Werssilows Besuch bei den Nachbarinnen zu kommentieren.
»Alles ist möglich; plötzlich spürt der Mann Geld in der Tasche … Übrigens, genauso wahrscheinlich ist es, daß er einfach ein Almosen gegeben hat; das ist Tradition und liegt vielleicht auch in seinen Neigungen.«
Ich erzählte, daß Stjebelkow vorhin etwas von einem »Säugling« geschwatzt hatte.
»In diesem Fall ist Stjebelkow völlig im Irrtum«, sagte Wassin mit besonderem Ernst und besonderem Nachdruck. (Auch daran erinnere ich mich sehr gut.) »Stjebelkow«, fuhr er fort, »verläßt sich gelegentlich viel zu sehr auf seinen praktischen, gesunden Menschenverstand und übereilt sich gelegentlich mit seinen Folgerungen, entsprechend seiner Logik, die oft recht scharfsinnig ist; indessen kann ein Geschehen in der Wirklichkeit ein wesentlich phantastischeres und verblüffenderes Kolorit annehmen, wenn man die handelnden Personen in Betracht zieht. So verhielt es sich auch in diesem Fall: Da er zu einem gewissen Grade über die Verhältnisse unterrichtet war, hat er den Schluß gezogen, das Kind sei von Werssilow. Aber dieses Kind ist nicht von Werssilow.«
Ich insistierte und erfuhr zu meinem Erstaunen folgendes: Das Kind war von dem Fürsten Sokolskij. Lidija Achmakowa hatte, infolge einer Krankheit oder aufgrund ihres wunderlichen Charakters, mitunter wie eine Geistesgestörte gehandelt. Sie hatte den Fürsten hinreißend gefunden, noch bevor sie Werssilow kennenlernte, und der Fürst »hatte keine Bedenken, sich ihre Liebe gefallen zu lassen«, wie Wassin sich ausdrückte. Das Verhältnis dauerte nur einen Augenblick: Es kam zu einem Zerwürfnis, wie bekannt, und Lidija hatte dem Fürsten die Tür gewiesen, »worüber dieser anscheinend froh war«.
»Sie war ein sehr eigenartiges junges Mädchen«, fügte Wassin hinzu, »es kann sogar sehr gut möglich sein, daß sie nicht immer bei vollem Verstand war. Aber bei seiner Abreise nach Paris hatte der Fürst keine Ahnung, in welcher Situation er sein Opfer zurückließ, er hatte keine Ahnung bis zum Schluß, bis zu seiner Rückkehr. Werssilow, der sich mit der jungen Person angefreundet hatte, schlug ihr die Ehe vor, gerade angesichts des eingetretenen Umstands (von dem, wie es scheint, auch die Eltern fast bis zum Schluß nichts geahnt hatten). Das verliebte junge Mädchen war entzückt und sah in Werssilows Antrag ›nicht nur seine Selbstaufopferung‹, die sie übrigens ebenfalls würdigte. Übrigens wird er dafür schon gesorgt haben«, fügte Wassin hinzu. »Das Kind, ein Mädchen, kam vier oder sechs Wochen zu früh auf die Welt und wurde irgendwo untergebracht, immer noch in Deutschland, später von Werssilow geholt und befindet sich jetzt irgendwo in Rußland, vielleicht in Petersburg.«
»Und die Phosphorzündhölzchen?«
»Davon weiß ich nichts. Lidija Achmakowa starb zwei Wochen
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