Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
wieder zu Wassin.
II
Ich war plötzlich auf den Gedanken gekommen, daß Wassin bereits über Kraft unterrichtet sein könnte, und vielleicht hundertmal besser als ich; und genau so war es auch. Wassin erzählte mir unverzüglich und bereitwillig sämtliche Einzelheiten, allerdings ohne besondere Anteilnahme; daraus konnte ich schließen, daß er sehr müde war, was sich später bestätigen sollte. Er selbst war in der Frühe bei Kraft gewesen. Kraft hatte sich mit dem Revolver (es war derselbe) gestern erschossen, bei eingetretener Dämmerung, wie es aus seinem Tagebuch hervorging. In der letzten Eintragung im Tagebuch, unmittelbar vor dem Schuß, hatte er geschrieben, daß es bereits dunkel sei und er die Buchstaben kaum erkennen könne; daß er trotzdem keine Kerze anzünden möge, aus Angst, einen Zimmerbrand zu hinterlassen. »Und eine Kerze anzünden, um sie vor dem Schuß wieder auszulöschen wie mein Leben, das will ich nicht«, hatte er sonderbarerweise fast in der allerletzten Zeile hinzugefügt. Dieses Tagebuch angesichts des Todes hatte er seit seiner Rückkehr nach Petersburg vor drei Tagen begonnen, noch vor seinem Besuch bei Dergatschow; nachdem ich mich verabschiedet hatte, erfolgten die Eintragungen jede Viertelstunde, die letzten drei oder vier jede fünf Minuten. Ich wunderte mich und sagte es auch, daß Wassin, der dieses Tagebuch eine geraume Zeit vor Augen gehabt hatte (man hatte es ihm zu lesen gegeben), keine Kopie angefertigt hatte, zumal es nicht mehr als alles in allem einen Druckbogen umfaßte und sämtliche Eintragungen kurz waren – »wenigstens die allerletzte Seite!« Wassin antwortete mir lächelnd, er habe sich alles ohnehin gemerkt, zumal die Eintragungen zusammenhanglos seien und wahllos alles enthielten, was einem durch den Kopf gehen könnte. Ich versuchte, ihn davon zu überzeugen, daß gerade dies in einem solchen Fall wertvoll sei, gab es aber auf und bettelte, er möge sich an einige Zeilen erinnern, und so erinnerte er sich an einige Zeilen, etwa eine Stunde vor dem Schuß, daß ihn »fröstele«; daß er »um sich zu erwärmen, ein Glas Wodka trinken wolle, aber der Gedanke, dies könne möglicherweise die Blutungen verstärken, ihn davon abgehalten« habe. »Und fast alles in dieser Art«, schloß Wassin.
»Und das nennen Sie Lappalien?« rief ich aus.
»Wann habe ich das so genannt? Ich habe nur keine Kopie davon gemacht. Aber auch, wenn es keine Lappalien sind, ist das Tagebuch in der Tat nichts Besonderes oder, besser gesagt, etwas Natürliches, das heißt, es ist eben so, wie es in einem solchen Fall sein muß …«
»Aber die letzten Gedanken, die allerletzten Gedanken!«
»Die letzten Gedanken können zuweilen absolut nichtssagend sein. Einmal beklagt sich ein solcher Selbstmörder in einem solchen Tagebuch darüber, daß ihm in einer so bedeutsamen Stunde nicht ein einziger ›höherer Gedanke‹ gekommen sei, sondern, im Gegenteil, nur belanglose und leere.«
»Ist denn der Gedanke, daß ihn fröstelte, ebenfalls eine Lappalie?«
»Das heißt, Sie meinen Frösteln oder Blutungen? Indessen ist es eine bekannte Tatsache, daß sehr viele von jenen Menschen, die imstande sind, an ihren bevorstehenden Tod zu denken, ob es sich nun um Selbstmord handelt oder nicht, häufig geneigt sind, sich Gedanken um die Wohlgestalt zu machen, in der ihr Leichnam zurückbleibt, und in diesem Sinne hat auch Kraft eine übermäßige Blutung vermeiden wollen.«
»Ich weiß nicht, ob das eine bekannte Tatsache ist … und ob es stimmt«, murmelte ich, »aber ich wundere mich, daß Sie das alles für so natürlich halten, und dabei hat Kraft erst vor kurzem unter uns gesessen, gesprochen, sich erregt? Ist es denn möglich, daß er Ihnen nicht wenigstens leid tut?«
»Oh, natürlich tut er mir leid, das ist ein ganz anderes Kapitel; aber wie dem auch sei, Kraft selbst hat mit seinem Tod eine logische Folgerung gezogen. Es erweist sich, daß alles, was gestern bei Dergatschow gesprochen worden ist, zutrifft: Unter seinem Nachlaß befindet sich ein diesbezügliches Heft mit wissenschaftlichen Folgerungen, daß die Russen eine zweitrangige Rasse sind, nach den Ergebnissen von Phrenologie, Kraneologie und sogar Mathematik, und daß folglich das Leben in der Eigenschaft als Russe sich ganz und gar nicht lohnt. Das Charakteristische von alldem ist, wenn Sie so wollen, daß man jede beliebige logische Folgerung daraus ziehen kann, aber daß man sich als Folge eine Kugel in den Kopf
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