Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
jagt – das ist selbstverständlich nicht so häufig.«
»In einem solchen Fall muß man wenigstens den Charakter würdigen.«
»Vielleicht, aber nicht nur das«, bemerkte Wassin ausweichend, aber es war klar, daß er darunter Beschränktheit und intellektuelles Unvermögen verstand. All das reizte mich.
»Sie haben gestern selbst von Gefühlen gesprochen, Wassin.«
»Auch jetzt stehe ich dazu. Aber angesichts der vollendeten Tatsache tritt der ihr zugrundeliegende grobe Denkfehler so deutlich in Erscheinung, daß ein unbestechlicher Blick unwillkürlich sogar das Mitgefühl zu verdrängen vermag.«
»Wissen Sie, ich habe an Ihren Augen schon vorhin erkannt, daß Sie Kraft tadeln werden, und, um diesen Tadel nicht hören zu müssen, mir vorgenommen, Sie nicht um Ihre Meinung zu fragen; aber Sie haben sie von sich aus geäußert, und ich sehe mich genötigt, Ihnen zuzustimmen; indessen bin ich mit Ihnen unzufrieden! Kraft tut mir leid.«
»Wissen Sie, wir sind etwas zu weit gegangen …«
»Ja, ja«, fiel ich ihm ins Wort, »aber man hat wenigstens den Trost, daß die Lebenden, die Richter des Verstorbenen, sich in solchen Fällen immer sagen können: ›Ein Mensch, jeder Teilnahme und Nachsicht würdig, hat sich zwar erschossen, aber wir sind immerhin geblieben, also haben wir keinen Grund, groß zu trauern.‹«
»Freilich, von diesem Gesichtspunkt aus … Ach ja, Sie haben wohl einen Scherz gemacht! Übrigens einen klugen! Ich trinke um diese Zeit gewöhnlich Tee und lasse ihn sofort bringen, Sie werden mir wohl Gesellschaft leisten.«
Er ging hinaus, nachdem er mit einem Blick meinen Koffer und mein Bündel gestreift hatte.
Ich hatte wirklich die Absicht gehabt, etwas möglichst Boshaftes zu sagen, um mich für Kraft zu rächen; und das hatte ich auch getan, so gut es ging; aber interessanterweise hatte er meine Worte, daß solche wie wir »geblieben sind«, ernst genommen. Wie dem auch sei, er hatte in allem mehr recht als ich, sogar, als es um Gefühle ging. Ich gestand es mir ein, ohne jede Unzufriedenheit, fühlte aber entschieden, daß ich ihn nicht mochte.
Als der Tee gebracht wurde, erklärte ich ihm, daß ich ihn um Gastfreundschaft bäte, nur für eine Nacht, er müsse es mir sagen, wenn es nicht ginge, ich würde dann in einen Gasthof umziehen. Darauf legte ich meine Gründe dar, indem ich kurz und bündig von meinem endgültigen Zerwürfnis mit Werssilow berichtete, ohne auf Einzelheiten einzugehen. Wassin hörte aufmerksam, aber völlig ungerührt zu. Im allgemeinen antwortete er nur auf Fragen, wenn auch bereitwillig und erschöpfend. Den Brief, mit dem ich ihn zuvor aufgesucht hatte, um seine Meinung zu erfragen, ließ ich nun unerwähnt; mein damaliges Erscheinen erklärte ich als Höflichkeitsbesuch. Nachdem ich Werssilow mein Wort gegeben hatte, daß kein anderer außer mir von diesem Brief je erfahren werde, erachtete ich mich nicht mehr für befugt, jemand, wem es auch sei, davon zu erzählen. Auf einmal widerstrebte es mir aus irgendeinem Grunde, manche Dinge mit Wassin zu erörtern. Manche, aber andere nicht; es gelang mir immerhin, seine Neugier durch die Schilderung der Szenen zu wecken, die sich im Korridor und im Zimmer der Nachbarinnen abgespielt und in Werssilows Wohnung ihr Ende gefunden hatten. Er hörte außerordentlich aufmerksam zu, besonders, als es um Stjebelkow ging. Wie Stjebelkow mich über Dergatschow ausfragen wollte, mußte ich auf seinen Wunsch zweimal erzählen, und er wurde sogar nachdenklich; allerdings lächelte er zum Schluß vor sich hin. In diesem Augenblick glaubte ich, daß Wassin nie und durch nichts auf der Welt in Verlegenheit gebracht werden könnte; übrigens stellte sich dieser erste Gedanke, das weiß ich noch, in einer für ihn äußerst schmeichelhaften Form dar.
»Überhaupt konnte ich den Reden des Herrn Stjebelkow nicht sehr viel entnehmen«, sagte ich abschließend, »er redet irgendwie sprunghaft … als hätte er etwas Leichtfertiges an sich …«
Wassin machte sofort ein ernstes Gesicht.
»Er ist tatsächlich nicht redegewandt, aber das scheint nur so auf den ersten Blick; manchmal gelingen ihm außerordentlich treffende Bemerkungen; und überhaupt – so sind die Männer der Praxis, des Geschäfts, und nicht die des abstrakten Denkens; man muß sie unter diesem Gesichtspunkt beurteilen …«
Genau so, wie ich es vorhin erraten hatte.
»Allerdings hat er einen furchtbaren Tumult bei Ihren Nachbarinnen verursacht, und Gott
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