Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
blieb lange bei der Vermieterin sitzen, der ein Außenstehender sogar willkommen war, zumal dieser seinerseits etwas zu dem Fall zu sagen hatte. Der Samowar kam sehr gelegen, und überhaupt gehört ein Samowar zu den allernotwendigsten russischen Attributen, namentlich bei Katastrophen und Unglücksfällen, insbesondere bei schrecklichen, unverhofften und exzentrischen; sogar die Mutter nahm zwei Täßchen zu sich, natürlich erst nach unermüdlichstem Zureden und beinahe unter Anwendung von Gewalt. Indessen habe ich, Hand aufs Herz!, noch nie einen grausameren und aufrichtigeren Schmerz gesehen als bei dieser Unglücklichen. Nach den ersten Tränenausbrüchen und der Hysterie begann sie zu sprechen, sogar gerne zu sprechen, und ich hörte ihr gierig zu. Es gibt von Unglück Betroffene, besonders unter den Frauen, die in ähnlichen Fällen sogar zu möglichst vielem Reden angeregt werden sollten. Außerdem gibt es Charaktere, denen der Kummer sozusagen allzu schlimm zugesetzt hat, die lange, ihr ganzes Leben lang, geduldet haben, die übermäßig viel sowohl tiefen als auch anhaltenden kleinen Kummer zu ertragen hatten und die man durch nichts mehr überraschen kann, durch keine unverhoffte Katastrophe, und die sogar an dem Sarg eines geliebten Wesens keine einzige der so teuer erworbenen Regeln des dienstwilligen Umgangs mit Menschen außer acht lassen. Und ich breche nicht den Stab über sie; hier liegen kein banaler Egoismus und kein unterentwickeltes Feingefühl vor, in diesen Herzen findet sich vielleicht mehr pures Gold als bei, dem Aussehen nach, edelsten Heldinnen. Aber die Gewohnheit einer anhaltenden Erniedrigung, der Selbsterhaltungstrieb, die anhaltende Einschüchterung und Unterdrückung bleiben schließlich nicht ohne Folgen. Die arme Selbstmörderin ähnelte darin keineswegs ihrer Mama. Sie sahen sich hingegen recht ähnlich, wie ich glaube, obwohl die Verstorbene durchaus nicht übel aussah. Die Mutter war eine noch ganz und gar nicht alte Frau, um die Fünfzig, ebenfalls blond, aber mit tief eingesunkenen Augen und Wangen und gelben, großen, unregelmäßigen Zähnen. Auch alles andere an ihr war irgendwie gelb: Ihre Gesichtshaut und ihre Hände erinnerten an Pergament; ihr dunkles Kleid war vor Alter ebenfalls vergilbt, und ein Nagel am Zeigefinger der rechten Hand war, ich weiß nicht warum, aus gelbem Wachs nachgeformt, sorgfältig und genau.
Die Erzählung der armen Frau war an manchen Stellen auch zusammenhanglos. Ich gebe wieder, wie ich sie verstanden und was ich davon behalten habe.
V
Sie waren aus Moskau angereist. Sie selbst, schon seit langem verwitwet, »immerhin Hofrätin«, ihr Mann, ein Beamter, hatte ihr fast nichts hinterlassen »außer immerhin zweihundert Rubel Pension. Aber was sind schon zweihundert Rubel?« Immerhin hatte sie Olja großgezogen und ein Gymnasium besuchen lassen. »Und wie die gelernt hat! Eine silberne Medaille hat sie bei der Entlassungsfeier bekommen …« (Hier, selbstverständlich, viele Tränen.) Ihr verstorbener Mann hatte bei einem hiesigen, einem Petersburger Kaufmann sein Kapital verloren, fast viertausend Rubel. Plötzlich war dieser Kaufmann wieder zu Geld gekommen, »ich hatte Dokumente, ließ mich beraten, und man sagte mir: ›Fordern Sie das Geld zurück, Sie werden bestimmt alles bekommen …‹ Ich meldete mich bei dem Kaufmann, er ging darauf ein; ›fahren Sie hin!‹ riet man mir. Also machte ich mich mit Olja auf den Weg, wir kamen bereits vor einem Monat hier an. Was für Mittel hatten wir schon; wir mieteten uns dieses Kämmerchen, weil es das kleinste von allen war und auch in einem anständigen Hause, das haben wir sehr wohl gesehen, und darauf legten wir den größten Wert: Wir sind unerfahrene Frauen, und jeder kann uns etwas zuleide tun. Also, wir bezahlten Ihnen die Miete für einen Monat im voraus, sahen uns um, Petersburg ist ein teures Pflaster, und unser Kaufmann will von nichts hören: ›Ich kenne Sie nicht, und ich weiß von nichts‹, und mein Dokument ist nicht rechtskräftig, das weiß ich selber. Jemand rät mir: ›Gehen Sie doch zu diesem berühmten Advokaten; der war Professor, ist kein einfacher Advokat, sondern ein Jurist, der wird genau sagen, was zu tun ist.‹ Ich trug meine letzten fünfzehn Rubel zu ihm. Der Advokat kam heraus und hörte mich keine drei Minuten lang an: ›Alles klar‹, sagt er, ›ich weiß‹, sagt er, ›wenn er will‹, sagt er, ›dann gibt der Kaufmann das Geld zurück, wenn er nicht
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